Der Wahl-Hamburger Michel van Dyke hat mit „Doppelleben“ ein Album zwischen Chanson und Hip-Hop veröffentlicht

Hamburg. Wie viele Leben passen in ein einziges? Wie viele Ideen? Wie viele Lieder? Michel van Dyke kratzt sich am Kopf und wischt sich durch das ohnehin schon zerzauste blonde Haar.

„Doppelleben“ heißt seine neue Platte. Es ist sein siebtes Soloalbum und das erste seit zehn Jahren. Was nicht heißt, dass van Dyke in der Zwischenzeit untätig war. Ein Bohemien mag er sein, ein Bummelant keineswegs.

„Wenn es ein Vierfachleben gäbe, dann hätte ich die Platte so genannt“, sagt van Dyke und nippt an seinem Kaffee. Zum Gespräch im Gloria an der Bellealliancestraße trägt er ein gepunktetes Hemd und ein entspanntes Schmunzeln um die Mundwinkel. Der Musiker ist zu Fuß gekommen, direkt um die Ecke liegt sein Studio. „Die meisten verbinden mit Doppelleben etwas Negatives. Ich nicht“, erzählt er. In seinem leichten Nuscheln steckt noch der Zungenschlag seiner niederländischen Heimat. „Für mich bedeutet Doppelleben, dass man mehrere Seiten von sich ausleben darf. Und dass das sehr befriedigend sein kann.“

Sich auszuprobieren, darin ist der 53-Jährige geübt. Als Jugendlicher Kirchenorganist. Um 1990 Chartserfolge in englischer Sprache. Touren mit Oasis und Simple Minds. Hitschreiber für die Teenieband Echt. Duettpartner von Annett Louisan bis Dr. Renz. Soundtrack-Lieferant für „Anatomie“ und „Crazy“. Platten alleine und mit dem Retro-Trio Ruben Cossani. Multiinstrumentalist und Produzent. Facette um Facette fügt sich zu da zu einem künstlerischen Charakter, den die Musik im Innersten zusammen hält. Und der nicht müde wird, stilistisch immer weiter zu suchen.

„Manche Leute mögen das neue Album als schizophren empfinden. Auf der einen Seite gibt es chansoneske Songs und auf der anderen Seite beatlastiges, cooles Zeug. Aber das widerspricht sich für mich nicht“, sagt van Dyke. Und so findet sich auf „Doppelleben“ die dunkle Samba-Nummer „Ich bin schuld“ neben einem Song wie „Lieber traurig“, in dem die Akustikgitarre dominiert, bevor Geigen und Piano Melodramatik entfalten. Das reduziert im Stakkato groovende „Sie hat bestimmt ein Geheimnis“ wird gefolgt von dem entschleunigten, basslastigen Hip-Hop-Stück „Wegen der Musik“, bei dem van Dyke im Duett mit Rapper Ferris MC vom Ausgehen im Alter erzählt.

All diese Songs transportieren die Eingängigkeit des Pop und verweigern sich zugleich eng gezimmerten Genre-Nischen. „Vielleicht habe ich mich immer schon ein bisschen zwischen den Stühlen gefühlt. Ich finde das jetzt okay. Als 18-Jähriger habe ich noch danach gesucht: Wer bin ich, was stelle ich dar, welche Schublade bin ich? Gott sei dank stellt sich diese Frage nicht mehr, wenn man schon so lange Musik macht.“

Ob van Dyke nun Songs für Jan Josef Liefers, Patrick Nuo, Dieter Thomas Kuhn oder für sein eigenes Œuvre komponiert – der ursprüngliche Impuls ist stets derselbe. „Ich schreibe einen Song immer erst mal für mich selbst und entscheide dann, ob ich den singe oder ob den jemand anderes bekommt“, sagt van Dyke. Ideen notiert er in einem Buch. Gerne beim Zugfahren. Mitunter fügt er einen akustischen Einfall, den er ganz frisch hat, mit einem Text zusammen, der einige Jahre alt ist. Die Pop-Historie einer Person hallt da in einem Song nach. Ein Stück junger, ein Stück älterer van Dyke. So geschehen bei „Ging in die Welt hinaus“, das von desaströsen Liebesversuchen in Absturznächten erzählt. „Man kann davon ausgehen, dass der Protagonist dieses Songs ein bisschen jünger ist als ich jetzt“, sagt van Dyke und lacht.

Die „Schlagerangst“ sei recht groß, weshalb er Klischees aussparen möchte

Die musikalische Leidenschaft ist mit dem Alter nicht geringer geworden. Aber die Gelassenheit ist gewachsen. „Ich hätte nichts dagegen, wenn sich die Erfolge der 90er-Jahre wieder einstellen würden“, sagt van Dyke. Aber Glück bemisst sich für den Vielseitigkeitskünstler in anderen Maßstäben. „Das erste Glück stellt sich ein, wenn ich die CD gelungen finde, das zweite, wenn die Platte Aufmerksamkeit bekommt. Und das dritte, wenn die Leute zu den Konzerten kommen und mitsingen.“

Auch wenn „Doppelleben“ weniger dem Sound der 1960er-Jahre frönt so wie der Solo-Vorgänger „Bossa Nova“, so ist die detailverliebte Melange aus Leichtigkeit und Melancholie doch typisch van Dyke. Er gibt zu, gerne etwas länger für seine Platten zu brauchen. „Ich habe den Anspruch, mir das noch in zehn Jahren anhören zu können, ohne mich schämen zu müssen.“ Die „Schlagerangst“ sei in Deutschland doch recht groß, weshalb er möglichst darauf achtet, Klischees auszusparen.

Obwohl er selbst Profi am Mischpult ist, hat van Dyke sich für „Doppelleben“ einen Produzenten gesucht. Swen Meyer, der bereits für so unterschiedliche Acts wie Kettcar, Lena Meyer-Landrut und Tim Bendzko arbeitete, hat sein Studio ebenfalls in der Eimsbüttler Nachbarschaft. „Es war Zeit, mich zu öffnen für neue Einflüsse. Swen und ich mussten aber erst mal den Respekt voreinander verlieren, sonst redet man nur um den heißen Brei rum“, erzählt van Dyke. Er ist ein Schöngeist, der gerne mal darüber fachsimpelt, dass ein Bass bitte „wolkig“ klingen soll.

Ein Wissen, das er mittlerweile als Dozent für Songwriting an der Musikhochschule in Hannover weitergibt. Zudem arbeitet er am Soundtrack für die Verfilmung von Karen Duves Roman „Taxi“. Und er schreibt Kurzgeschichten, die mit seinen Songs korrespondieren. Etwa mit „Nordsee“. Der Text wird auf der Platte als Bonus von Jan Josef Liefers vorgetragen. Viele Leben in einem also. Man darf gespannt sein, welche noch dazu kommen.

Michel van Dyke „Doppelleben“ (Warner Music); www.michelvandyke.de