Die Französin Karine Tuil hat mit „Die Gierigen“ einen grandiosen Roman über Liebe und Lebenslügen geschrieben

Es kommt nicht allzu oft vor, dass man einen Roman in die Hand nimmt, von dem man beim Lesen vollkommen begeistert ist. Die französische Schriftstellerin Karine Tuil ist 42 Jahre alt, studierte Juristin und hat bisher sechs Romane veröffentlicht, von denen der dritte nun bei uns erschienen ist. Im vergangenen Herbst sorgte er in Frankreich für eine Sensation, ging als einer unter vier Romanen ins Rennen um den Prix Goncourt, die wichtigste literarische französische Auszeichnung.

„Die Gierigen“ heißt der Titel dieser Dreiecksgeschichte auf Deutsch, im Französischen „L’invention des nos vies“, was frei übersetzt, „Die Erfindung unserer Leben“ heißen würde. Denn in dem großartig geschriebenen Gesellschaftsgemälde beschreibt sie nicht nur präzise, schonungslos und hintergründig, wie man sich die Biografie seines Lebens zurechtbiegen kann. Sie zeigt vor allem, wie sehr der Wettbewerb unter einstmals Verbündeten, Liebenden zu Lüge, Hass und Betrug führen können. Es gibt kein richtiges Leben im falschen. Aber schön ist es doch.

Nina, Samuel und Samir sind Freunde. Unzertrennlich träumen sie als Studenten von Idealen, ihrer Zukunft, dem Leben. Samuel und Nina sind ein Paar. Doch dann begehrt Samir Nina. Und Nina auch ihn. Anfangs voller Schuldgefühle, dann im Rausch des Eros, später mit dem Gedanken, dass im Namen der Liebe alles erlaubt und richtig ist. Und natürlich, so ist es im Leben und nicht nur im Roman, gerät die Biografie der drei – oder zumindest die der beiden Männer – zwischen sie.

Nina stammt aus wohlhabendem bürgerlichen Elternhaus, ist sehr schön und eigentlich sorgenfrei, verfügt aber über wenig Selbstbewusstsein. Schöne Frauen leiden ja oft daran, da sie sich wundern, warum sie von aller Welt angebetet werden, selbst aber nichts dahinter spüren. Samuel wuchs in einem intellektuellen jüdischen Elternhaus auf, erfährt aber eines Tages, dass er adoptiert ist, geboren von einer polnischen Bäuerin. Das Zerwürfnis mit seinen Eltern folgt prompt, auch weil sie sich entschlossen haben, religiös zu werden. Samuel, der sich als ein „einziges Bündel von Neurosen betrachtete“, hat nur einen Ehrgeiz, „seine persönliche Leidensgeschichte zu einem großen Roman zu verarbeiten“. Samir ist Moslem, hat tunesische Eltern, der Vater ist tot, die Mutter wird schwanger von ihrem Dienstherrn, einem konservativen Politiker. Samirs Jugend verläuft in der Dienstbotenkammer und später in einer verwahrlosten Neubausiedlung. Aber Samir ist gewinnend, klug und geprägt von dem unbedingten Willen zu gewinnen und aufzusteigen.

Nina geht nach dem Betrug zu Samuel zurück, auch weil sie dessen Unglück nicht ertragen kann. Samir startet indessen seine Anwaltskarriere. Sein arabisch klingender Name bringt ihm nur Absagen ein. So wird aus Samir Sam, später Samuel. Samir borgt sich Samuels Biografie und steigt auf. Nach Jahren leitet er erfolgreich eine Zweigstelle einer US-Kanzlei in New York. Er heiratet Ruth, die Tochter eines sehr wohlhabenden, sehr einflussreichen Juden, der seine Vorbehalte gegenüber Sam nie ganz aufgibt.

Und Sam, der nun in der High Society lebt, seine Mutter verleugnet und ein Scheinleben nicht nur durch seine falsche Identität, sondern auch durch seine gnadenlose, nie nachlassende Sucht nach fremden Frauen führt, blüht auf. Lust und Laster, Macht und Moneten, Gier und Genuss berauschen ihn. Er gewinnt sogar Nina zurück. Die beiden gönnen sich alles. Und merkwürdigerweise liebt man als Leser diesen Gewinner, diesen Mister Charming, obwohl man ahnt, dass er nicht damit durchkommen wird. Anders als im Leben, wo Frechheit und Skrupellosigkeit oft siegen, folgt im Roman natürlich der Fall, die Strafe.

Während Sam stürzt und leidet, schreibt Samuel endlich seinen Erfolgsroman. Glücklich wird er damit allerdings auch nicht. Und auch Nina, die eines Tages alles ändern muss, fällt hart. Glück sieht anders aus.

Karine Tuil gelingt es meisterhaft, unsere Gesellschaft zu zeichnen, dort, wo es um Jobs und Karriere, um Beziehungen und Behinderungen geht. Lebe wie ein Raubtier, sonst gehst du unter, zeigt sie. Aber untergehen wird man auch als Raubtier. Mit präziser Sprache lässt sie Stimmungen leben. Und durch witzige Fußnoten, die merkwürdige Lebensläufe von Personen erklären, die nur einmal im Roman erwähnt werden, löst sie die Spannung, die die Leser durch das Buch treibt. Tuils Helden lernt man in diesem Buch bis in ihr Innerstes kennen. Und doch bleibt ihnen ihr Geheimnis.

Die Lüge, die man anderen auftischt, die Lüge, mit der man sich selbst lieber nicht konfrontiert sieht, liest man aus ihnen heraus und entdeckt sie dann beim Lesen in uns allen. So etwas schafft nur große Literatur.

Karine Tuil liest in Hamburg aus ihrem Roman, am 14.9., 20 Uhr, Kühne Logistics University, Großer Grasbrook 15-17, Karten 15 Euro, Tel: 30309898

Karin Tuil: „Die Gierigen“, deutsch von Maja Ueberle-Pfaff. Aufbau Verlag, 480 Seiten, 19,95 €