Marc-André Dalbavie inszeniert in Salzburg feinfühlig die Kammerspiel-Oper „Charlotte Salomon“ über eine von den Nazis ermordete Malerin.

Salzburg. Nicht auszudenken, was alles hätte schiefgehen können bei dieser Hommage an eine Künstlerin, die als Chirurgentochter im großbürgerlichen Berlin-Charlottenburg geboren wurde, in Südfrankreich ihr Glück zu finden hoffte und 1943, 26 Jahre jung, zurück ins Reich deportiert und von den Nazis in Auschwitz ermordet wurde. Mit der Uraufführung der Musiktheater-Produktion „Charlotte Salomon“ auf der überdimensionierten Breitwand-Bühne der Felsenreitschule haben die Salzburger Festspiele eindrucksvoll bewiesen, dass Dezenz – gerade hier – mitunter auch Stärke sein kann. Denn der Franzose Marc-André Dalbavie hat eine feinfühlige Kammerspiel-Oper über eine Malerin komponiert, die das dicke Auftragen konsequent vermeidet und trotz der kindlichen Naivität des Beginns nie ins Kitschige abgleitet.

Die Entstehungsgeschichte hat es in sich: Mitten im Kompositionsprozess, als viele Produktionsweichen schon gestellt waren, hatten Dalbavie und der für seine szenische Diskretion bekannte Regie-Altmeister Luc Bondy noch ein komplett neues Libretto über Leben und Werke in Auftrag gegeben, die letzte Note des 130-Minüters wurde erst zwei Tage vor Probenbeginn geschrieben. Um der Vielschichtigkeit der Hauptperson und der Erzählstruktur gerecht zu werden, hatten Dalbavie und seine Librettistin Barbara Honigmann die Titelrolle auf eine Sängerin – die Mezzosopranistin Marianne Crebassa – und eine Schauspielerin – Johanna Wokalek, Burgtheater-Star, Stammgast in Bondy-Inszenierungen und Frau von NDR-Chefdirigent Thomas Hengelbrock – aufgeteilt. Beide verkörperten in identischen Backfischkostümen je einen Teil von Charlottes Charakter und formten so, mit klarer Intensität und sparsamen Gesten, das Gesamtbild einer leidenschaftlichen Einzelgängerin. Und die Eindringlichkeit der Opernstimme fand in der sanften Kraft der Bühnengestalt eine ideale Ergänzung.

Nach ihrer Emigration hatte Charlotte sich in Farben und Worte geflüchtet, sie hatte das autobiografische „Singespiel“ namens „Leben? Oder Theater?“ aus Hunderten von Bildern und Texten und Musik-Verweisen geschaffen, das sich um ihre Welt dreht. Es ging um ihre Ängste und ihre Familie, in der es eine Neigung zum Selbstmord gab, während Charlotte selbst vom Leben noch so viel wollte. Auch hier überschneiden sich Stück und Leben: Familienmitglieder erhalten andere Namen, Charlotte Salomon sieht und zeigt sich auch als Charlotte Kann.

Spektakulär vordergründig war hier gar nichts, im Gegenteil. Johannes Schütz’ Bühnenbild griff die comicstripähnliche Machart von Salomons expressionistischen Gouachen auf. Wie in einem Setzkasten wurden in diesem Handlungs-Rahmen sparsam möblierte Szenen nebeneinander installiert oder durch Überblendungen verbunden, als Geschichte, als Geschichts-Lektion und moralische Mahnung. Charlotte Salomon war eine von Millionen, sie hat nicht, wie Anne Frank, ein Tagebuch hinterlassen, sondern die vielen Bilder.

Publikumspädagogisch wertvoll, insbesondere unter diesen Umständen: die unaufdringliche Klangsprache des 53-jährigen Franzosen, der das Mozartorchester bei seiner zweiten Opernpremiere nach der Künstleroper „Gesualdo“ gleich selbst dirigierte. Auf einen Untergrund aus fahlen, sanft ausgebreiteten Klangflächen und Farbschattierungen drapierte und verfremdete der Spektralmusiker Dalbavie immer wieder klassische Zitate und Anspielungen, die in Salomons nacherzählter Biografie eine Rolle gespielt hatten: die „Carmen“-Habanera, der „Jungfernkranz“ aus Webers „Freischütz“, Schubert, melancholischen Mahler und ausgelassen Jiddisches, aber auch das Horst-Wessel-Lied, tumb gegrölt von SA-Männern im Braunhemd. Dalbavie gelingt das Kunststück, in seiner Komposition mit Obertönen zu arbeiten und in der wahren Geschichte all diese Zwischentöne effektvoll auszuspielen.

Diese Collage, vom Mozartorchester delikat und souverän umgesetzt, bildet den Soundtrack eines kurzen, von Tragik und Verlust übertönten Lebens – eine Chronik aus Episoden, die das Festspiel-Publikum so freundlich an die Hand nimmt, dass selbst die hartgesottensten Traditionalisten auf ihren teuren Plätzen keine Avantgarde-Schocks fürchten müssten. Es ist ganz unmittelbar und verstörend eine einfache, aber nicht simple Leidensgeschichte, die hier erzählt wird. Wie ein sich unaufhörlich verdüsterndes Märchen, bei dem das Schicksal seinem Opfer kein Happy End gönnen will.