Mit „Das Haus am Alsterufer“ legt Micaela Jary, Tochter des Komponisten Michael Jary, einen historischen Roman vor. Der liest sich wie ein „Downton Abbey für Hamburg“

Hamburg. Wie haben die Menschen vor 100 Jahren in Hamburg gelebt? Welche Themen haben sie umgetrieben? Was haben sie gefühlt? „Ich liebe es, in alte Geschichten einzutauchen“, sagt Micaela Jary und streicht sich eine blonde Strähne hinter das Ohr mit dem Perlenohrring. Sie trägt einen hellen Blazer zur langen schwarzen Hose. Dazu Goldschmuck. Eine geerdete Eleganz. Das Hanseatische steckt sichtbar in der gebürtigen Hamburgerin. Selbst wenn Jary nach mehreren Jahren in Paris längst wahlweise in München oder Berlin lebt. Vor ihr, auf dem Tisch im Hotel Vier Jahreszeiten, steht eine Etagere mit Gebäck. Dazu eine Kanne Tee. Dass sich die Hauptfiguren ihres neuen Romans an gleicher Stelle getroffen haben, ist bestens vorstellbar. Das Hotel mit seiner Stuckdecke und den Ledersesseln ist ein Ort, in dem Geschichte zu atmen scheint.

Zahlreiche solcher Hamburger Schauplätze hat Jary in ihrem Buch „Das Haus am Alsterufer“ mit historischer Handlung aufgeladen. Gefragt, ihr wievielter Roman das sei, muss sie an den Fingern abzählen (und dann die Sach- und Kinderbücher herausrechnen). „Nummer elf“, sagt sie schließlich. Und ergänzt: „Ich warte noch auf den Rosamunde-Pilcher-Effekt. Die hatte mit dem zwölften Roman und 65 Jahren ihren Durchbruch.“ Jary, die am heutigen Dienstag ihren 58. Geburtstag feiert und ihr Werk passenderweise im Kunsthaus an der Alster vorstellt, schreibt Unterhaltungsliteratur. Und das voller Überzeugung. Als Sprecherin des Vereins zur Förderung Deutschsprachiger Liebesromanliteratur ist sie sozusagen Chef-Lobbyistin für Herzschmerzlektüre. Ihren Beruf romantisiert sie deshalb noch lange nicht.

Zu ihrer Arbeit gehöre zuallererst: „Lesen, lesen, lesen!“ Die Konkurrenz will beobachtet werden. Nachdem Jary mit dem Hund draußen war und gefrühstückt hat, setzt sie sich an den Schreibtisch. Ein routiniertes Schaffen. „Die Zahlen besagen, dass wir in dem Genre 90 Prozent Leserinnen haben. Und dass die gerne über Frauen lesen wollen“, erklärt Jary. Also sei es schlicht eine große Portion Handwerk, dass sie im „Haus am Alsterufer“ primär von weiblichen Persönlichkeiten erzählt. Von den sehr unterschiedlichen Reederstöchtern Nele, Lavinia und Ellinor Dornhain sowie vom Dienstmädchen Klara. Und wer bei einer solchen Konstellation an die britische Erfolgsserie „Downton Abbey“ mit ihren Herrenhäusern und Hierarchien denkt, der liegt richtig. Jarys Agentin hatte ihr 2012 vorgeschlagen, ein „Downton Abbey für Hamburg“ zu schreiben. „Ich liebe die Serie. Die DVDs im Schlafzimmer zu gucken war Highlight meines Winters“, sagt Jary.

Die Figur des Victor Dornhain ist an die Vita des Reeders Albert Ballin angelehnt

Die Krisen und Höhenflüge, Liebesabenteuer und Entwicklungsschritte, die ihre Protagonistinnen in Hamburg, aber auch in München und im Tessin durchmachen, verknüpft Jary im Roman mit dem Zeitgeschehen der Jahre 1911 bis 1918, etwa mit der Frauenbewegung und mit ganz konkreten Ereignissen wie der Eröffnung des Alten Elbtunnels, der Gründung der Künstlergruppe Blauer Reiter und dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Besonders plastisch zeigen sich da die Einschnitte für Hafen und Handel am Schicksal des Patriarchen Victor Dornhain, den Jary an die Vita des Hamburger Reeders Albert Ballin angelehnt hat. Als „Fingerübung“ wiederum hat die Autorin auch ganz persönliche Elemente eingebaut.

Neles große Liebe Konrad Michaelis wohnt in der St. Benediktstraße 9, jener Reihenvilla, in der Jary selbst bis zu ihrem sechsten Lebensjahr aufwuchs, bevor sie mit ihren Eltern ins schweizerische Lugano zog. Eine Kindheit, die sie animierte, als Teenager den historischen Reederroman „Die Erben der Dornhains“ zu verfassen. Das Manuskript ging bei einem Umzug verloren. Aber die Figuren lebten in Jary fort.

„Für mich war es schon immer sehr real und überhaupt nicht versponnen, sich Geschichten auszudenken“, erzählt Jary. Ihr Vater Michael Jary (1906–1988) feierte als Komponist für Film, Swing und Schlager Erfolge und schuf Evergreens wie „Das kann doch einen Seemann nicht erschüttern“, „Ich weiß, es wird einmal ein Wunder geschehn“ und „Davon geht die Welt nicht unter“. Zahlreiche Regisseure und Schriftsteller zählten zu seinem Freundeskreis. Die junge Micaela hörte zu und lernte. Ihr Geld verdiente sie lange Jahre als Journalistin, seit etwa zehn Jahren schreibt sie ausschließlich Bücher. Ein bis zwei im Jahr. „Das reicht mittlerweile zum Glück für weit mehr als eine Tankfüllung“, sagt Jary pragmatisch. Dass ihr Mann Anwalt für Urheberrecht ist, schade zudem nicht. In die Figur des Konrad Michaelis hat sie starke Züge ihres Gatten gelegt. Denn manchmal liegt das Gute auch ganz nah.

Micaela Jary präsentiert „Das Haus am Alsterufer“ (Goldmann): Di 19.30, Kunsthaus an der Alster, Alsterchaussee 3, Eintritt frei; micaelajary.de