Verena Fischer-Zernin Jean-Bernard heißt der Lockenkopf, der da plötzlich in unserer Klasse sitzt, das heißt, neben mir. Einfach so, ein Junge unter 25 giggelnden Klosterschülerinnen. Wer auch immer sich den koedukativen Austausch mit Mönchengladbachs Partnerstadt Lille ausgedacht hat, er kann nicht damit gerechnet haben, welche hormonellen Eruptionen der Besuch einer Gruppe französischer Jungs im Jahre 1982 in der Marienschule auslösen würde.

Und erst recht nicht darüber nachgedacht, ob das eigentlich so gottgefällig sei, wie es die Schulleitung wünscht (und der Papst sowieso). Wenigstens die Lektüre ist über jeden Zweifel erhaben, wir lesen gerade „Der kleine Prinz“. Im französischen Original natürlich, mit reihum Vorlesen und so. Sentenzen wie „Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar“ unfallfrei über die Lippen zu bringen ist schon unter normalen, also jungsfreien Umständen eine Herausforderung. Unter Jean-Bernards blauem Blick habe ich beim Lesen das Gefühl, dass meine linke Seite binnen Sekunden zerfließt.

Doch als der Satz geschafft ist, spüre ich seine Hand auf meinem linken Unterarm. Ich male mir schon den Beginn einer wunderbaren Freundschaft aus – ach nein, das ist jetzt der falsche Film – da sehe ich ihn aus dem Augenwinkel eine andere Hand ergreifen.

Ach, Jean-Bernard. Du bist zeitlebens für das verantwortlich, was du dir vertraut gemacht hast, hast du das vergessen?