Seine Novelle „Im Krebsgang“ ist jetzt Abiturthema in Schleswig-Holstein. Literaturnobelpreisträger Günter Grass erklärt Pädagogen in Lübeck sein Werk und warnt vor „Interpretationssucht“

Wussten Sie, dass hier auch Erich Mühsam zur Schule ging?“, fragt Günter Grass mit Blick auf das Katharineum in Lübeck. Die ungewöhnliche Lehrstunde, die der Literaturnobelpreisträger 120 Pädagogen in der Stadtbibliothek gab, ist längst vorbei. Doch auf dem Weg nach Hause gibt Grass eine Zugabe, bleibt bei den Lehrerinnen stehen, die auf einer Bank vor dem Gymnasium Platz genommen haben – vor genau der Schule, die einst schon Heinrich und Thomas Mann besuchten und eben auch der von den Nazis ermordete Schriftsteller Erich Mühsam. Grass geht bewusst an diesem Abend auf die Lehrer zu, sucht vor, nach und während der Lehrerfortbildung den Kontakt. Er hat Tipps für diejenigen, die sein Werk im Unterricht behandeln und Wünsche, was sie die Jugend anhand der Novelle „Im Krebsgang“ lehren sollen.

Ein Literaturnobelpreisträger, der Lehrer unterrichtet, der sie im Umgang mit seinem eigenen Werk schult? Diese verrückte Idee stammt von Jörg-Philipp Thomsa. Der Leiter des Grass-Hauses registrierte das gesteigerte Interesse von Lehrkräften an Führungen und Unterrichtsmaterial zum „Krebsgang“. Das liegt vor allem daran, dass die Novelle, die Grass 2002 veröffentlichte, in Schleswig-Holstein als zentrales Abiturthema ausgewählt wurde: Jeder Schüler, der zwischen 2014 und 2016 sein Abitur im nördlichsten Bundesland macht, kommt um dieses Buch nicht herum. „Ich habe immer Mitleid mit den Schülern gehabt“, sagt Grass, der aufgrund des Krieges nie ein Abitur machen konnte und später zum Ehrenabiturienten ernannt wurde.

Mitleid scheint Grass aber auch mit denen zu haben, die den Stoff vermitteln sollen. Denn er stimmte sofort zu, als Thomsa ihm die Idee einer Lehrerfortbildung zum „Krebsgang“ mit und von Günter Grass unterbreitete. „Vielleicht kann ich dazu beitragen, wie der Generation von heute das Buch nähergebracht wird. Diese Chance wollte ich nutzen“, sagt Grass. Diese seltene Gelegenheit nutzten aber auch die Lehrer zahlreich. So zahlreich, dass der anfangs geplante Raum im Grass-Haus dem Andrang nicht gewachsen war. Deshalb wurde die Lehrerschulung durch den Literaturnobelpreisträger kurzerhand in den Scharbausaal der Stadtbibliothek verlegt. Ein historischer Raum für einen historischen Moment, da ist sich Thomsa sicher: „Es ist wohl einmalig, dass ein Autor Lehrern in dieser Form zur Verfügung steht. Das ist ein Stück Zeitgeschichte.“

Im ehemaligen Schlafsaal der Franziskanermönche des Katharinenklosters, umringt von 20.000 alten Bänden aus den Gebieten Geschichte und Theologie, erlebten etwa 120 Lehrer den „historischen Moment“, der allerdings etwas nüchtern und manchmal als Verkaufsveranstaltung für das Grass-Haus und seine Bücher daherkam. Schade ist auch, dass aufgrund der vielen Wissbegierigen die Fragen zuvor gesammelt und dann in Kategorien gebündelt beantwortet werden mussten. Nachfragen waren so nicht möglich. Grass-Haus-Leiter Thomsa trug die Fragen vor, die in die Themen „Entstehung“, „Inhalt und Form“, „Rezeption“ und „Sonstiges“ unterteilt waren. Doch bevor Grass überhaupt eine einzige Frage beantwortete, stellte er selbst eine, eingespielt als Filmsequenz: „Haben Sie das Buch komplett gelesen?“, fragt er in einem Gespräch eine Gruppe von Schülern, die ihn in seinem Haus in Behlendorf bei Lübeck besuchen durften und natürlich alle zustimmen. Das spannende Zusammentreffen des 86 Jahre alten Literaturnobelpreisträgers mit seinen jungen Lesern wurde aufgenommen. Auch den Schülern beantwortete Grass Fragen. Sie sind letztlich seine Zielgruppe, auch bei der Lehrerfortbildung in Lübeck. „Machen Sie das den Schülern deutlich“ oder „Das sollten Sie im Schulunterricht vermitteln“, gab Grass den Lehrern mit auf den Weg.

Was ihm besonders am Herzen lag: Lehrern und somit Schülern das Schreiben als langen Reifeprozess näher zu bringen. „Jedes Thema brauchte seine Zeit“, erläuterte Grass. Die Geschichte vom Untergang der „Wilhelm Gustloff“, die Grass im „Krebsgang“ thematisiert, beschäftigte ihn jahrzehntelang. „Ich fand keinen literarischen Zugang, dann kamen andere Themen.“ Was ihn überhaupt bewegt habe, sich diesem Stoff zuzuwenden, wollte ein Lehrer laut Thomsa wissen. „Ich denke heute, dass der Stoff mit vorherbestimmt war“, antwortete Grass. Er habe eine „artistische Zeit“ gehabt. Wie viele Autoren seiner Generation habe er sich ausprobiert, bis ein Mitglied der Schriftstellergruppe 47, der Grass seit dem Jahr 1957 angehört, ihm sagte, dass es genug sei. „Das hat mir den nötigen Schubs gegeben.“

Grass gab bei der „Lehrerfortbildung“ tiefe Einblicke in seinen Schreibprozess, wie er Werkpläne anfertigt und Texte intensiv überarbeitet. Dabei entwickeln Figuren offensichtlich auch ein Eigenleben – so wie seine Hauptfigur Oskar Matzerath aus dem weltberühmten Roman „Die Blechtrommel“. Der wollte Grass eine Schwester zur Seite stellen. „Ich hatte diese Figur genau vor Augen. Aber Oskar hat sich gewehrt. Das hat eine heftige Schreibblockade ausgelöst“, sagte Grass. Am Ende blieb der Sonderling aus der „Blechtrommel“ geschwisterlos. Aber die Figur der Tulla (Ursula Pokriefke) ließ ihn nicht los. Sie taucht sowohl in dem Roman „Katz und Maus“ als auch in „Hundejahre“ auf.

Tulla ist auch schuld daran, warum es heute die Novelle „Krebsgang“ gibt. In einer schlaflosen Nacht fiel Grass ein, sie als Überlebende der „Gustloff“-Tragödie einzusetzen. Mit ihr und weiteren Familienmitgliedern der Pokriefkes gelang es ihm, den Stoff in die heutige Zeit zu übersetzen. Das war aus seiner Sicht die Initialzündung für die etwa 200-seitige Novelle. Sie schildert die Versenkung der „Gustloff“ durch ein sowjetisches U-Boot. Protagonist ist der Journalist Paul Pokriefke. Er wurde an dem Tag geboren, an dem 9000 Menschen starben. Im „Krebsgang“ befasst sich Grass mit der Wirkung des Vergangenen auf die Gegenwart und mit deren Verarbeitung. Dabei greift er ein bis dahin oft verdrängtes Thema, das Leiden der Deutschen im Zweiten Weltkrieg, auf. „Mit Verdrängung fangen Verbrechen an. Bitte unterrichten Sie, wie solche Verdrängungsprozesse funktionieren“, appellierte er an die Lehrkräfte.

Um einen Zugang zur Jugend zu finden, ihr Interesse für die Ereignisse von vor knapp 70 Jahren zu wecken, würde sich Grass eines Tricks bedienen. Wäre Grass Lehrer, würde er mit seinen Deutschschülern „Schiffe versenken“ spielen. So lautete auch der Arbeitstitel für die Novelle, den er später als zu eindeutig verwarf. „Ich würde mit Schiffe versenken anfangen und dann erklären, was es in der Realität bedeutet. Davon würde ich mir eine gesteigerte Aufmerksamkeit versprechen. Aber das wissen Sie als Lehrer besser.“

Janina Hermann, 28, und Anja Manneck, 31, wollen mit ihren Schülern nicht Schiffe versenken spielen. Für die Deutschlehrerinnen vom Wolfgang-Borchert-Gymnasium in Halstenbek steht „Im Krebsgang“ von Sommer 2015 an auf dem Lehrplan. Dann werden sie jeweils Klassen mit angehenden Abiturienten übernehmen. Ihr Fazit der sehr ungewöhnlichen Lehrerfortbildung durch einen Literaturnobelpreisträger fällt positiv aus. „Ich werde das jetzt anders unterrichten. Lebendiger und persönlicher“, sagte Manneck, die zuvor skeptisch war, ob die Autorenschulung etwas bringe. Das sah auch Hermann so. „Es hilft mir, ihn persönlich erlebt zu haben. Ich habe einen Bezug, den ich vermitteln kann“, sagte sie. „Normalerweise müssen wir Schüler motivieren. Das hat die Lehrer motiviert.“

Wer von den Anwesenden hoffte, Grass liefere während der Fortbildung auch eine Interpretation seines Werkes frei Haus, irrte. Im Gegenteil, er machte ganz deutlich, dass er davon gar nichts hält. „Bitte, vergehen Sie sich nicht in Interpretationssucht, sondern widmen Sie sich lieber der historischen Auseinandersetzung“, gab er den Lehrern mit auf den Weg. Und für die vielen Tausenden zukünftigen Abiturienten in Schleswig-Holstein hatte er eine aufbauende Botschaft: „Jede Kunst verträgt Tausende Interpretationen – auch die verrückteste.“

Günter Grass: „Im Krebsgang“. Steidl Verlag. 224 Seiten, 9,90 €