Pietro Antonio Cestis frühbarocke Oper „Orontea“ inszeniert Anja Krietsch in der Opera Stabile als frivol-ehrenhaftes Spiel

Hamburg. Musiktheaterleute, die sich heute auf die Oper des Frühbarock besinnen, erscheinen wie Fotografen, die im Zeitalter der massenhaften Digitalknipserei die Lochkamera für sich entdecken. Wie bei der archaischen Methode der Bilderschaffung lässt sich gerade aus dem Urtümlichen der vergleichsweise simplen Werke aus den Anfängen der Operngeschichte das Zeitlose besonders schön herauspräparieren. Dass der Blick dabei eindeutig ein zeitgenössischer bleibt, gibt der Rückschau erst ihren Reiz.

Das Internationale Opernstudio der Hamburgischen Staatsoper hat sich für seine Jahresproduktion, die am Sonnabend in der Opera Stabile ihre Premiere erlebte, der „Orontea“ von Pietro Antonio Cesti (1623–1669) angenommen. Wie frühbarock Cestis Musik klingt, lässt sich vorstellen, wenn man sich klarmacht, dass das Werk 1656 uraufgeführt wurde, knapp 30 Jahre, ehe Bach und Händel überhaupt geboren wurden.

Die überlieferten Noten lassen viel Spielraum in Besetzungsfragen und Spielweise, das Rezitativische nimmt breiten Raum ein. Die Arie existiert bereits, ist aber noch Knospe. Die freier ausgesungenen Passagen haben etwas Liedhaftes, Koloraturen erscheinen im Fluss der musikalischen Rhetorik wie kleine, vereinzelte Stromschnellen des intensiven Gefühls. Kurze instrumentale Zwischenspiele sind häufig, Duette zwischen den Sängern rare Ausnahme.

Das Sujet der „Orontea“, geschrieben von Giacinto Cicognini (1606– 1651), verhandelt Grundsätzliches: das Ringen zwischen Entsagung und prallem Leben, zwischen Libertinage und Eremitentum. Dieser Kampf wird hier ziemlich graziös ausgetragen, in einer Mischung aus kindlicher Unbekümmertheit und dem Bemühen um etwas philosophischen Tiefgang. Der Plot ist reichlich verwirrend und löst sich dermaßen lachhaft, dass man sich kaum vorstellen kann, Cestis und Cicogninis Zeitgenossen hätten ihn auch nur ein bisschen ernster genommen als wir heute.

Um zugleich dem Werk und einem zeitgenössischen Umgang mit ihm gerecht zu werden, bedient sich Regisseurin Anja Krietsch eines altbewährten Tricks. Sie gestaltet den Liebesreigen als Theater im Theater. Acht Akteure verkörpern zugleich dessen Figuren wie sich selbst. Orontea (Ida Aldrian) ist die Diva der Truppe; sie thront über den anderen, neun steile Stufen führen in ihr enges Gemach. Ein buntes, von der Decke baumelndes Origami-Mobile verbildlicht hübsch Oronteas Bemühen um eine Balance im Leben jenseits der Begierden und Anfechtungen der irdischen Liebe. Den bei Cesti im Prolog auftretenden Philosophen singt sie gleich mit. Ihr Gegenstück ist die leichtlebig wechselndem Liebesvergnügen zuneigende Silandra (Solen Mainguené), der Krietsch sinnvollerweise auch den Part des Amor im Prolog zuweist. Im Theater im Theater versieht Silandra den Job der Ankleiderin.

Des Weiteren treten auf: der Bühnenarbeiter Corindo (Michael Thomas), der den Wein preisende Bühnenbildner Gelone (Vincenzo Neri), die burschenhaft-feminine Regieassistentin Giacinta (Anat Edri) und der Regisseur oder Intendant Creonte (Szymon Kobylinski). Sie haben ein reichlich schräges Paar zu Gast, das sich als Mutter und Sohn vorstellt. Die androgyne, anfangs noch Conchita-Wurst-artig bärtige Mutter Aristea (Manuel Günther) brezelt sich in den folgenden Stunden ausdauernd zum ziemlich scharfen Transvestiten mit dem langen, blonden Engelhaar eines Rockmusikers der 70er-Jahre auf. Alidoro (Sergiu Saplacan), ihr vermeintlicher Sohn, kommt als ziemlich lächerlicher Latin Lover rüber, in den sich alle drei Frauen der Show vergucken. Alidoro und Aristea gehen mit all ihrem Lametta bisweilen als Schmalspur-Ausgabe von Siegfried und Roy durch.

Nora Husmann hat in den schwarzen Kubus der Opera Stabile eine raffiniert-einfache Bühne gebaut, die mit ihrem sichtbar auf Theatertauglichkeit behandelten Mobiliar perfekt zur Inszenierung passt und fünf Parallelschauplätze bietet, von denen die Mitte naturgemäß nur einer ist. Auch wenn auf den anderen nicht immer etwas passiert: Sitzen, stehen, tuscheln oder liegen tun dort meistens welche, Spielraum ist der ganze Bühnenraum.

Unter Oronteas Hochsitz agiert ein neunköpfiges, von Nicholas Carter vom Cembalo aus geleitetes Ensemble in Glitzersakkos, das mit zwei Flöten, zwei Violinen, Cello, Kontrabass, Laute (stellenweise wunderbar improvisatorisch: Johannes Gontarski) sowie erstem und zweitem Cembalo besetzt ist. Nach anfänglichen Abstimmungsproblemen hinsichtlich der Intonation begleitete es die Sänger lebendig und hinreichend affektgeladen.

Die sieben Mitglieder des Opernstudios und ihr Countertenor-Gast Michael Taylor, dessen Stimme derart zart ist, dass man sie sich kaum in einem größerem Raum als diesem vorzustellen wagt, spielten ihr frivol-ehrenhaftes Spiel mit sichtlichem Vergnügen. Solen Mainguené bekam ihren starken Sopran nicht auf die Verhältnisse des Saals heruntergeregelt, dafür sang Vincenzo Neri sich im Verlauf des Abends schön aus dem Schneckenhaus heraus, in dessen Enge er anfänglich festzustecken schien. Alidoro, der Checker-Typ mit dem Dackelblick, war in Sergiu Saplacans warmem, natürlich fließenden Tenor bestens aufgehoben, Manuel Günther chargierte mit Freuden, aber im rechten Maß. Szymon Kobylisnkis Bass klang angemessen gravitätisch, schön beweglich, auch Anat Edri gefiel mit ungekünsteltem, stimmschönem Gesang.

Ida Aldrian freilich ist aus gutem Grund die Chefin im Ring; ihre Orontea ist verletzbar, stolz, schnippisch, zornig. Nach dem Willen der Regie hat sich diese Frau, die sich der unvermutet heranbrausenden Liebesgefühle erst hilflos zu erwehren suchte, am Ende wieder derart in der Gewalt, dass sie Alidoro fast wegwerfend zu ihrem Mann bestimmt. Ida Aldrians wunderbar ausgewogener Mezzosopran entfaltet eine schimmernde Präsenz, auch ihre reiche Erfahrung mit der Musik der Epoche zahlt sich aus. Die Phrasen stimmen, sie koloriert ihre Töne ohne zu forcieren, sie hebt die Musik auf eine höhere Ebene. Und verströmt dabei eine Lebensschönheit, dass man den Blick nicht von ihr wenden mag.