Dirigent Thomas Hengelbrock eröffnete mit dem NDR Sinfonieorchester in Lübeck das Schleswig-Holstein Musik Festival

Lübeck. Patriotische Gesänge anzustimmen ist uns Deutschen seit Verdun und Stalingrad, Auschwitz und Lidice gründlich vergangen. Als Zeitgenosse Bismarcks hatte Johannes Brahms keine Hemmungen, diesen nach der dänischen Niederlage in Kopenhagen zu preisen und Kaiser Wilhelm I. 1871 zum Sieg über Frankreich ein markiges Triumphlied zu widmen. Sein Text stammt freilich nicht von Freiligrath, sondern aus der Offenbarung des Johannes.

Wenn sich Thomas Hengelbrock beeilte, die Saison des Schleswig-Holstein Musikfestivals mit der (von Brahms so apostrophierten) „politischen Betrachtung über dies Jahr“ einzuläuten, so hatte er ein aktuelles Tatmotiv. Im Notenarchiv der Bremer Philharmonischen Gesellschaft fanden sich nämlich unlängst die Chor- und Orchesterstimmen des ursprünglichen Eingangschors, den Brahms 1871 im Bremer Dom persönlich dirigiert hatte: als Teil des Karfreitagskonzerts „zum Andenken an die im Kampfe Gefallenen“, das mit dem „Deutschen Requiem“ anhob. Verständlich also der Eifer des Orchesterchefs, den Bremer Fund – inzwischen der Kieler Brahms-Gesamtausgabe einverleibt – medienwirksam ins Land zu tragen.

Allerdings: Wer sich darauf gespitzt hatte, das „Triumphlied“ in der Lübecker Musik- und Kongresshalle nun endlich einmal in Gänze zu hören, nur eben mit der „Bremer Urfassung“ des ersten Satzes – der erlebte sein blaues Wunder. Denn das gloriose „Heil und Preis, Ehre und Kraft sei Gott unserm Herrn“ der vereinten Berliner und Hamburger Rundfunkchöre hatte kaum geendet, als das Klopfmotiv von Beethovens „Fünfter“ wie ein Blitz ins Geschehen fuhr: abrupter Umschlag vom C-Dur-Jubel ins schicksalspochende c-Moll – eine Klangfolge, die jenem „Dur-Moll-Siegel“ entspricht, wie man es von Mahler und Strauss („Also sprach Zarathustra“) kennt, aber auch als tragisch getöntes Eingangsmotto aus Brahms’ „Dritter“. Ihm derart mit Beethoven „über den Schnabel zu fahren“, hätte Brahms eher nicht gefallen. Hörte er diesen doch zeitlebens als „Riesen“ hinter sich marschieren. Im Übrigen offenbarte die Kostprobe aus dem „Triumphlied“, dass Richard Wagner mit seiner mokanten Bemerkung, Brahms habe hier die „Halleluja-Perücke Händels“ angelegt, so falsch nicht lag. Wiewohl die Chorstimmen der Bremer Fassung polyfoner klingen, die Streicher figurativer und das Bassfundament weniger dominant.

Um zu Mendelssohn überzuleiten, den Leitstern dieses Festivalsommers, war Beethovens „Schicksalssymphonie“ – der Hengelbrock alle Zacken und Zinken wiedergab, die ihr die Popularität abschliff – die richtige Wahl. Hatte der 18-jährige Felix doch dem alten Goethe, der „nicht an Beethoven heranwollte“, in dessen Weimarer Haus ihren Kopfsatz am Klavier vorgespielt. Woraufhin der Olympier tatsächlich einlenkte: „Das ist sehr groß, ganz toll – man möchte fürchten, das Haus fiele ein.“ Ein Eindruck, dem das NDR Sinfonieorchester am Ende verteufelt nahe kam.

Mit dem Teufel geht es auch in Goethes Rollen-Ballade „Die erste Walpurgisnacht“ zu. Ihr Hexenspuk, ihre Gabelstiche gegen die „dumpfen Pfaffenchristen“, die das heidnische Fruchtbarkeitsfest als Sexorgie ächteten, hatten es dem jungen Mendelssohn längst schon angetan, als er sich bald nach seinem letzten Goethebesuch in Italien ans Komponieren machte. Zehn Jahre später gab er ihr den letzten Schliff: nicht mehr „allzu warm mit Posaunen gefüttert“. Nach der Schlechtwetter- und Frühlingsouvertüre fesselten vor allem die beiden höllisch klangmalenden, von Pauken, Becken und Flötenblitzen erhitzten Chöre des Heidenvolks. Und auch die weisen Töne des Priester-Baritons (Michael Nagy). Die einsame Druiden-Partie des Startenors Klaus Florian Vogt war eher ein Werbespot für seinen Schubert-Liederabend am 16. Juli im Kieler Schloss.