Jan Philipp Reemtsma über den Entwurf des Deserteur-Denkmals, über das Verschwinden der NS-Zeitzeugen und die Notwendigkeit der Erinnerung

Hamburg. Der Hamburger Künstler Volker Lang wird das Denkmal für Deserteure und andere Opfer der NS-Militärjustiz am Dammtor gestalten. Wir sprachen mit Jan Philipp Reemtsma, dem Vorstand des Hamburger Instituts für Sozialforschung, der der elfköpfigen Vergabe-Jury angehört.

Hamburger Abendblatt:

Herr Reemtsma, wie finden Sie den Entwurf?

Jan Philipp Reemtsma:

Ich finde, dass er die gestellte Aufgabe gut erfüllt.

Und den Text von Helmut Heißenbüttel, den er dafür gewählt hat, finden Sie angemessen?

Reemtsma:

Ja, es ist eine gute Idee, hier ein Stück bundesdeutsche Literaturgeschichte zu verwenden.

Der Ort in unmittelbarer Nachbarschaft zu Richard Kuöhls 76-Denkmal und Alfred Hrdlickas Mahnmal war vorgegeben. Ist er glücklich gewählt?

Reemtsma:

Genau um diesen Ort ging es ja. Die Relativierung und Kommentierung des 76-Denkmals durch Hrdlicka war missglückt …

Weil es Fragment geblieben ist?

Reemtsma:

Mindestens deshalb. Da man das Kuöhl-Denkmal aber aus denkmalpflegerischen Gründen nicht abreißen kann, was meine Option gewesen wäre, musste hier etwas geschehen. Wenn man das 76er-Denkmal abgerissen hätte, wäre der Hrdlicka nicht notwendig gewesen. Und dann hätte man immer noch entscheiden können, den Gedenkort für Deserteure hier oder anderswo zu errichten. Aber das steht alles nicht zur Debatte, man muss mit den Dingen umgehen, die vorhanden sind. In diesem Zusammenhang finde ich Volker Langs Idee, neben den kubischen Block und die angedeutet runde Flächigkeit von Hrdlicka dieses Dreieck zu stellen, gut. Wir haben im 76er-Denkmal eine Gewaltverherrlichung durch Bilder, wir haben bei Hrdlicka den Versuch, eine Gegensymbolik aufzubauen, und wir bekommen jetzt ein Element, das die Sprache, das Wissen, die Information und die Literatur dagegensetzt.

Warum tun sich so viele schwer mit dem Gedenken an Deserteure?

Reemtsma:

Da müssen Sie diese Leute fragen, nicht mich…

Bei rassisch Verfolgten und Widerstandskämpfern ist die Motivation klar, bei Deserteuren, so wird oft argumentiert, seien die Motive nicht eindeutig: Manche desertieren, weil sie die deutsche Kriegsführung ablehnten, andere wollten ihr Leben retten.

Reemtsma:

Darauf kommt es nicht an. Die eine Perspektive ist: Egal in welcher Armee, Desertion wird immer geahndet, denn ansonsten könnte keine Armee existieren. Die richtige Umkehrung dieser Perspektive, und darauf bezieht sich der Bundestagsbeschluss zur pauschalen Aufhebung der NS-Urteile gegen Wehrmachtsdeserteure, heißt: Es kommt auf die Art des Krieges an. Und der Krieg, den die Wehrmacht geführt hat, war von Anfang an, von der Planung bis hin zu den Details der Durchführung, ein, hier zitiere ich den Bundestag, „verbrecherischer Vernichtungskrieg“. Und damit ist jede Desertion von vornherein moralisch legitimiert, egal aus welchen individuellen Gründen sie vollzogen wurde.

Ein Problem der alten Bundesrepublik ist die Kontinuität ihrer Eliten über die NS-Zeit hinaus. „Was damals Recht war, kann heute nicht Unrecht sein“, das Zitat des früheren CDU-Ministerpräsidenten Filbinger bringt diese Situation auf den Punkt. Wirkt diese Haltung bis in die jüngste Vergangenheit nach, wenn zum Beispiel der CSU-Bundestagsabgeordnete Norbert Geis, der das Dritte Reich nur als Kind erlebt hat, die pauschale Aufhebung der Urteile gegen Deserteure im Zweiten Weltkrieg als „Schande“ bezeichnet?

Reemtsma:

Es geht weniger um die Kontinuität der Eliten, als vielmehr um die Vorstellung, dass die Solidarität mit einer Armee, die unter deutschen Fahnen kämpft, größer zu sein habe als der Wert von Recht, Völkerrecht und Moral. Das ist ein klares Statement, das Geis charakterisiert. Und das will er auch.

Was bedeutet es, dass die Zeitzeugengenration langsam verschwindet?

Reemtsma:

Das ist immer so in geschichtlichen Prozessen. Die Vorstellung, dass man emotionell und intellektuell ohne Zeitzeugen keinen Zugang zur Geschichte findet, ist falsch. Aber natürlich verändert sich etwas, wenn wir die Menschen, die es direkt erlebt haben, nicht mehr sprechen können. Aber das heißt nicht, dass man dann andere Bücher schreibt und andere Gedenktage hat und andere Denkmäler baut.

Aber die Nähe, die Zeitzeugen vermitteln, geht verloren.

Reemtsma:

Selbstverständlich, so ist das Leben. Aber durch das Aussterben einer Generation werden die Brücken zur Vergangenheit nicht abgebrochen.

Welche Bedeutung hat die Verantwortung für die NS-Geschichte für Deutsche, die im 21. Jahrhundert geboren wurden?

Reemtsma:

Geschichte ist keine Lektion, die man abspulen könnte. Jede historische Situation ist vollkommen unterschiedlich.

Aber Geschichte vermittelt Erfahrungen.

Reemtsma:

Ja und die große Erfahrung der Zeit von 1933 bis 1945 ist, dass eine Zivilisation buchstäblich im Handumdrehen kollabieren kann und sich die manifeste Barbarei in einer scheinbar weiter normal funktionierenden Gesellschaft etablieren kann. Neuengamme ist von der Hamburger Innenstadt mit dem Auto in einer halben Stunde zu erreichen. Die Deportation der Juden, die auf der Moorweide warten mussten, fand vor aller Augen statt. Daraus, und das ist die Aufgabe, lässt sich etwas gewinnen. Nämlich Empfindlichkeit, Nervosität, Achtsamkeit, Aufmerksamkeit.

Als es 1990 zur Wiedervereinigung kam, gab es nicht nur in Europa Ängste vor einem erstarkten deutschen Nationalismus. Der spanische Autor Heleno Sano schrieb damals das viel beachtete Buch „Das vierte Reich. Deutschlands später Sieg“. Was hat sich seither in der Wahrnehmung Deutschlands verändert?

Reemtsma:

Ich habe durchaus diese Sorgen geteilt. Es hat ja zum Beispiel nach 1871 so einen Mechanismus gegeben, dass man zwar glücklich über das geeinte Deutschland war, aber für die trotzdem existierenden Probleme Schuldige gesucht hat. Und ich habe damals befürchtet, dass die ausländerfeindlichen Ausschreitungen in Hoyerswerda und anderswo ein solches Phänomen sein könnten. Aber so ist es nicht gekommen. Es hat genügend starke Gegenkräfte gegeben. Und das war eine wichtige Erfahrung. Die Befürchtungen haben sich glücklicherweise nicht bewahrheitet.

Nach der Wiedervereinigung sind zahlreiche oft künstlerisch ambitionierte Gedenkorte entstanden. Besteht nicht die Gefahr, dass die realen Orte des Schreckens dagegen in den Hintergrund treten?

Reemtsma:

Die Gefahr besteht, aber daraus folgt, dass man sich um die authentischen Orte kümmern muss. Dort ist es passiert, und nur dieser Ort kann die Nähe zu dem Geschehen aufzeigen: Die Nachbarschaft der scheinbaren Zivilisation mit der manifesten Barbarei. Eine Ahnung davon können nur die realen Orte vermitteln und keine Denk- oder Mahnmale. Diese sind damit aber nicht sinnlos, sondern eröffnen einen anderen Zugang.