In „Der erste Sohn“ schildert US-Autor Philipp Meyer eine texanische Familiensaga

Hamburg. Romananfänge sind wichtig. „Mir wurde vorhergesagt, dass ich hundert Jahre alt werden würde, und da ich dieses Alter erreicht habe, sehe ich keinen Grund, an dieser Prophezeiung zu zweifeln.“ So beginnt Philipp Meyer seinen Roman „Der erste Sohn“ und macht damit von vornherein klar, dass es in diesem Buch um größere zeitliche Dimensionen geht. 100 Jahre reichen dabei nicht einmal aus, man kann diese Zeitspanne verdoppeln.

Es geht um die Familie McCullough von der Zeit vor dem Amerikanischen Bürgerkrieg bis in die Gegenwart. Im Jahr 1811 wird der Patriarch des Clans geboren, aber der Roman beginnt mit den Aufzeichnungen seines Sohns Eli, den man den Colonel nennt.

Als Eli 13 Jahre alt ist, muss er Traumatisches erleben. Das texanische Heim der McCulloughs wird von Indianern überfallen, seine Mutter und Schwester werden vergewaltigt und ermordet. Ihn selbst nehmen die Comanchen als Gefangenen mit, geben ihm den Namen Tiehteti und ziehen ihn fortan in ihrer Mitte auf. Meyer schildert diesen brutalen Überfall unsentimental und in großer Detailliertheit.

Eli, der später jähzornig wird und sich zu einem Tyrannen entwickelt, ist einer der drei Erzähler des Romans. Für seine Familienmitglieder gilt die Maxime: „Jede Bemerkung gegen den Colonel ist eine Bemerkung gegen Gott oder den Regen oder den weißen Mann – gegen das Gute auf der Welt.“

Der zweite Erzähler ist Elis Sohn Peter, den die Erinnerungen an einen von seiner Familie angeführten Überfall auf ihre reichen mexikanischen Nachbarn nicht wieder loslassen. Die weibliche Stimme des Romans gehört Peters Enkelin Jeanne Anne. Der Autor stellt sie als unkonventionelles junges Mädchen vor, das in ein Internat geht und sich mit arroganten Mitschülerinnen auseinandersetzen muss. Als alte Frau ist sie nicht mehr in der Lage, sich zu bewegen und blickt auf ihr ereignisreiches Leben als Clan-Chefin zurück.

„Der erste Sohn“ ist viel mehr als eine Familiensaga. Meyer erzählt vom Land und seinen Bewohnern, die je nach Herkunft auch ein unterschiedliches Selbstverständnis an den Tag legten. „Wenn man an einem beliebigen Feld vorbeikam und merkte, dass der Boden gleichbleibend flach und die Reihen gerade waren, gehörte das Land einem Deutschen. War das Feld voller Steine, sahen die Reihen aus, als hätte ein blinder Indianer sie gezogen, schrieb man Dezember, und die Baumwolle war immer noch nicht geerntet worden, wusste man, dass das Land einem einheimischen Weißen gehörte.“

Wie der Autor über Texas schreibt, ist bemerkenswert. Nichts ist hier zu finden von einer Beschönigung amerikanischer Gründungsmythen. Dieser Fassade versetzt der Autor gewaltige Kratzer. Die Menschen in seinem Buch sind oft raffgierige Egomanen. Nächstenliebe findet man nur in homöopathischen Dosen. Meyers Wilder Westen ist vom rücksichtslosen Überlebenskampf gekennzeichnet. Von den romantisierenden Schilderungen dieser Zeit, wie wir sie etwa von Zane Grey oder Owen Wister kennen, hebt er sich deutlich ab.

Meyer ist ein minutiöser Beobachter und bietet neue Facetten des Alltags der Comanchen an. Er widmet sich deren sexuellen Gewohnheiten und wie sie mit und von den Tieren lebten. Im Kapitel „Der Bison“ schreibt er: „Der Magen wurde entfernt, das gefressene Gras herausgequetscht und der restliche Saft sofort als Stärkungsmittel getrunken oder denen, die Blasen oder Ausschlag hatten, aufs Gesicht getupft. Den Inhalt der Gedärme drückte man zwischen den Fingern aus, die leeren Gedärme wurden entweder gegrillt oder roh gegessen. Die Nieren, das Nierenfett und der Talg entlang der Lenden wurden ebenfalls roh gegessen, während das Schlachten weiterging.“ Es geht zeilenlang so weiter. Die Passage verdeutlicht, dass er akribisch, zum Teil auch wie besessen recherchiert hat.

„Der erste Sohn“ ist ein Roman, der ein erstaunlich reiches und vielschichtiges Panorama entfaltet. Meyer, der mit seinem Erstling „Rost“ den Niedergang der amerikanischen Arbeiterklasse thematisierte, zeigt sich erneut als desillusionierender Darsteller des Alltags. In der düsteren Weltsicht erinnert er an Cormac McCarthy, aber er hat zweifellos einen eigenen Zugang. Am kommenden Donnerstag liest Philipp Meyer im Literaturhaus.

Philipp Meyer liest Do 19.30, Literaturhaus (Metrobus 6), Schwanenwik 38, Karten 10,-/8,-

Philipp Meyer: „Der erste Sohn“, Knaus, 608 Seiten, 24,99 Euro