Der Oscar-prämierte Dokumentarfilm „20 Feet From Stardom“ erzählt von Background-Sängerinnen

Hamburg. Fast jeder hat sie schon gehört oder gesehen, aber wer kann sich schon genau an sie erinnern? Die Rede ist von Lisa Fischer, Mary Clayton, Darlene Love, Tata Vega oder Judith Hill. Erstklassige Künstlerinnen allesamt, großartige Sängerinnen, die eins gemeinsam haben: Sie stehen auf der Bühne in der zweiten Reihe, sie sind Background-Sängerinnen. Die Superstars brauchen sie.

Der amerikanische Regisseur Morgan Neville hat über dieses Thema einen Dokumentarfilm gedreht, in dem auch Bruce Springsteen, Sting, Mick Jagger, Steve Wonder und Bette Midler zu Wort kommen. „20 Feet From Stardom“ gewann den Oscar für den besten Dokumentarfilm. An diesem Donnerstag startet er bei uns in den Kinos.

Es sei schwierig, ganz nach vorn ins Rampenlicht vorzudringen, berichtet Springsteen. Dabei gehe es gar nicht mal um den physischen Akt des Singens, es sei auch ein mentaler Sprung. Er kenne großartige Background-Sänger, denen es an zwei entscheidenden Voraussetzungen fehle: Narzissmus und das entsprechende Ego.

Regisseur Morgan Neville wurde durch seinen Freund Gil Friesen auf das Thema aufmerksam. Sein Freund hatte mehrere Jahre lang als Präsident des Plattenlabels A&M gearbeitet und dabei viele der Sängerinnen und Sänger kennengelernt. Neville begann zu recherchieren und war erstaunt: „Die Leute waren praktisch unsichtbar. Ich konnte kaum Artikel oder Websites über sie finden.“

Also suchte er die persönliche Begegnung und traf im Laufe der Zeit 80 Sängerinnen, ließ sich von ihnen ihre Lebensgeschichten erzählen. Fünf Frauen stehen nun im Mittelpunkt des Films. „Sie auszuwählen war für mich die härteste Arbeit“, so der Regisseur.

Neville konnte im Lauf der Entstehungsgeschichte eigene Vorurteile aus dem Weg räumen. „Ich dachte zuerst, sie wären nicht gut genug für die erste Reihe. Das ist aber völlig falsch. Sie müssen sehr gut und vielseitig sein. Leadsinger machen dagegen einfach nur ihr Ding.“ Seine Protagonistinnen repräsentieren mehrere Generationen von Sängerinnen. Zunächst waren nur Weiße für den Harmoniegesang gefragt. Das änderte sich zwar, aber lange ging die Musikindustrie nicht besonders pfleglich mit ihnen um. Auch einige Journalisten mussten Gehör und Verstand noch schärfen, wenn sie nach Konzerten schrieben: Die Tänzerinnen waren ganz gut. Viele Background-Sänger, fand Neville heraus, kamen ursprünglich aus Kirchenchören. Dort lernten sie den Harmoniegesang und wie man sich selbstlos unterordnet. In der Popmusik hatten sie keinen leichten Stand. „Sie wurden wie eine Art Dekoration behandelt und oft nur nach ihrem Aussehen eingestellt.“

Und sie lernen viele Schattenseiten des Geschäfts kennen. Eine der Sängerinnen berichtete ihm von den Vorbereitungen zu einer Tour mit Britney Spears. „Ihre Gesangsparts wurden vorab aufgezeichnet. Sie bewegte dazu nur die Lippen. Das ähnelte mehr einer Zirkusvorstellung als einem Konzert.“ Ganz anders war es mit Sonny Bono, dem Ex-Ehemann von Cher. Der galt zwar als schlechter Sänger, wurde aber als guter Chef geschätzt. „Popstars sind in der Regel keine großen Künstler, haben aber manchmal noch andere Qualitäten“, sagt Neville.

Psychologisch besonders interessant ist der Film, wenn es um die Frage geht, warum es die Background-Sänger es nicht geschafft haben, Solo-Künstler zu werden oder dies auch gar nicht wollten. „Für so eine Karriere braucht man gutes Material, Ambitionen, Timing, Glück und ein großes Ego“, sagt Neville. „Einige wollen aber nur singen und helfen und sind stolz auf ihr Handwerk, obwohl sie die DNA eines Leadsängers in sich haben.“ Schwierig sei es für die Sängerinnen, mit ihrer Kunst ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Die Top-Verdiener kommen zurecht, für die meisten ist es schwierig. Auch das Privatleben ist oft problematisch. Die großen Aufnahme-Sessions sind Vergangenheit. Musiker verdienen ihr Geld auf Tourneen. Die Sängerinnen sind dann oft monatelang unterwegs.

Musiker verdienen ihr Geld heute auf Tourneen, sind monatelang unterwegs

„Das Wichtigste ist für mich die Freude am Singen. Ich war gar nicht scharf darauf ein Star zu werden“, erzählt N’gone Thiam. Sie singt für Jan Delay, zusammen mit ihrer Schwester Boussa tritt sie auch als Duo The Thiams mit Soulnummern auf. „Ich hatte keinen Gospelchor, aber ich hatte Whitney Houston und Mariah Carey.“ Die Songs ihrer Vorbilder hat sie als Teenager nachzusingen versucht. „Im Background hat man weniger Stress und kann sich freier entfalten. Ob ich bereit wäre, das alles aufzugeben, weiß ich nicht.“ Oft fühlt sie sich nach Auftritten mit anderen Künstlern inspiriert. „Ich komme dann nach Hause und schreibe eigene Songs.“

Morgan Neville wird den Musikthemen erst einmal treu bleiben, jetzt erst recht. „Ich hätte nie gedacht, für diesen Film einen Oscar zu gewinnen. Als ich anfing, fielen mir vielleicht zehn Songs ein, in denen ich die Background-Singer wichtig fand, jetzt sind es Hunderte.“ Der Regisseur, der selbst Musiker ist, und Dokumentarfilme über Muddy Waters, Johnny Cash, Carole King und James Taylor gemacht hat, sagt: „Musik ist eigentlich ein trojanisches Pferd. Man kann es als Vehikel für alle möglichen Themen benutzen: Rassismus, Gender-Themen, Politik im Allgemeinen, Geschichte, Emotionen.“ Er hat zwar auch ein Spielfilmprojekt in Planung, aber zunächst einmal arbeitet er an einem Dokumentarfilm über den US-Cellisten Yo Yo Ma. Es soll darum gehen, wie Musik Grenzen überschreitet. Drehen will er in China, im Irak und in Syrien.

Eine Kritik zu „20 Feet From Stardom“ lesen Sie im Live-Magazin