Schlag nach bei Frank Günther: Seit mehr als 40 Jahren erstellt der Übersetzer deutsche Fassungen von Shakespeares Stücken

Hamburg. Shakespeare ist der bedeutendste und einflussreichste Dramatiker aller Zeiten. Nur die Bibel wird häufiger zitiert. Vor 450 Jahren, im April 1564 wurde Shakespeare geboren, am 26. April wurde er getauft. In seinen 37 Komödien, Tragödien und Historienstücken hat er sich in eine unendliche Vielfalt menschlicher Leidenschaften, Regungen, Gefühlswelten und Seelenabgründe empathisch hineinversetzt. Er hat in seinen Dramen Menschen erschaffen, die sich entwickeln, erkennen und immer wieder neu begreifen. Das macht ihn so einzigartig. Diese Figuren des 16. Jahrhunderts können heute noch erklären, wie ein Mensch ist, wenn er liebt, mordet, machthungrig ist, eifersüchtig, tyrannisch, schuldgeplagt. Mehr als 2000 Wörter hat Shakespeare der englischen Sprache hinzugefügt. Und wissen wir eigentlich, dass wir Shakespeare zitieren, wenn wir sagen, „es ist höchste Zeit“, „etwas löst sich in Luft auf“, „Liebe macht blind“ oder „das ist zu viel des Guten“? 420 Filmadaptionen seiner Stücke gibt es. Shakespeare hat mehr als 100 bedeutende Figuren geschaffen, und etwa 1100 Nebenfiguren, jede von ihnen mit individuellem Charakter.

Gut möglich, dass niemand in Deutschland mehr über Shakespeare weiß als Frank Günther. Günther übersetzt seit mehr als 40 Jahren Shakespeares Stücke ins Deutsche. Seine Arbeit wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. „Man muss eine eigene Sprache, einen eigenen Sprachduktus finden, um mit dem alten Original zurechtzukommen“, sagt Günther, dessen Übersetzungen heute praktisch an allen Theatern gespielt werden. Gerade ist „Unser Shakespeare. Einblicke in Shakespeares fremd-verwandte Zeiten“ (dtv), sein wunderbares Buch über Shakespeare und seine Zeit, erschienen.

Hamburger Abendblatt:

Ein Freund, der mich gerade zu Ihnen gefahren hat, möchte unbedingt wissen, ob Shakespeare wirklich alle seine Werke selbst geschrieben hat. Wie lautet Ihre Antwort?

Frank Günther:

Ich weiß nicht, wie man auf die Idee kommen kann, er habe seine Stücke nicht selbst geschrieben. Bis zu 80 verschiedene Namen von Menschen kursieren da, die angeblich Shakespeares Stücke geschrieben haben sollen. Dabei gibt es kaum eine bürgerliche Biografie aus dieser Zeit, die besser belegt ist, als Shakespeares. Es ist wohl auf den Irrglauben zurückzuführen, dass ein Autor nur das schreiben kann, was er erlebt hat. Als ob Fantasie nicht existieren würde und die Leser nur Wahrheit und keine Dichtung wollten. Wenn Shakespeare das alles erlebt haben sollte, was er geschrieben hat, hätte er keine Zeit mehr gehabt, seine Stücke zu schreiben.

Sie haben fast alles von ihm übersetzt ...

Günther:

Nein. Mir fehlen noch die Stücke „Heinrich VIII.“, „Perikles“ und „König Johann“. Und seine Lyrik. Die beiden erstgenannten Stücke hat er in Kooperation geschrieben. Wie alle Autoren der Zeit schrieb Shakespeare manches auch im Kollektiv.

Welche Stücke hat Shakespeare selbst erfunden?

Günther:

Nur drei, der „Sturm“, „Verlorene Liebesmüh“ und große Teile des „Sommernachtstraums“. Er war quasi Plagiator. Er hat den europäischen, vor allem den italienischen Novellenschatz geplündert. Vor „Hamlet“ gab es beispielsweise schon drei Hamlets. Er hat Strukturen und Geschichten übernommen. Die Verwandlung in Vielschichtiges, die Shakespeare mit den Stoffen vorgenommen hat, ist aber gewaltig.

Sie schildern sehr anschaulich, dass die Theater zu Shakespeares Zeiten im Rotlichtviertel lagen, dass unmittelbar daneben Hinrichtungen stattfanden oder Tierhatzen, dass 2000 Zuschauer täglich ins Globe Theatre strömten, um sich auch über das Tagesgeschehen zu informieren, dass es im Theater wahnsinnig nach Ausdünstungen gestunken haben muss. Man bekommt ein sehr anschauliches Bild von der Zeit um 1600.

Günther:

Dieses Viertel, die City of London und die dort spielenden Theater wurden von den Puritanern gehasst. Nicht nur weil sie das, was dort gezeigt wurde, missbilligt haben, also Betrug, Ehebruch, Gotteslästerei, obszöne Witze, Mord. Die Theater galten ihnen als Herde des Aufruhrs und der Anarchie, als unmoralische Anstalt. Theater wurde nachmittags gespielt, abends herrschte Ausgangsverbot. So blieben Tausende, die im Theater waren, ihrer Arbeit fern. Das war für den bürgerlichen Betrieb in London eine Bedrohung. 2000 Zuschauer in einem Theater, das war ein Prozent der damaligen Einwohnerzahl von London. Die Theater überlebten nur durch die Protektion der Königin. Elizabeth hat das Theater geliebt. Ihr Geschmack ähnelte dem des Küchenpersonals. Gestunken hat es da im Theater sicher. Die Menschen haben sich damals kaum je gewaschen, sie haben viel Zwiebeln und Knoblauch gegessen, hatten faule Zähne und die Fäkalien wurden aus dem Fenster geworfen. Es gab viele Seuchen und Erkrankungen. Der gewaltsame Tod war allgegenwärtig. Die Zeit war überhaupt sehr barbarisch. Zur Abschreckung wurden überall im Land abgehackte Körperteile von „Verrätern“ aufgehängt.

Wenn es mehr als 40 Pesttote pro Tag in London gab, wurden die Theater geschlossen.

Günther:

Man wusste nicht, woher die Pest kam. Als Heilmittel galt beispielsweise eine halbe, frisch geschlachtete Taube, die man roh auf die Pestbeule legen sollte. Die Theater mussten in solchen Zeiten aus der Stadt flüchten und auf dem Land auf Tournee gehen.

In jener Epoche sollen 3000 Dramen entstanden sein.

Günther:

Theater war etwas Neues. Wie Hollywood. Oder das Fernsehen 1956. Es war unterhaltsam, so etwas hatte es zuvor noch nie gegeben, Volkstheater auf der Bretterbude. Vorher kannte man allenfalls Kirchweih- und Mysterienspiele. Zwischen 1564 bis 1640 sind 50 Millionen Menschen ins Theater gegangen. Die Bühnen hatten einen wahnsinnigen Bedarf an Texten, die brauchten ununterbrochen neue Stoffe. Manchmal wurden fünf oder sechs neue Stücke pro Woche aufgeführt. Ein Hauptdarsteller musste pro Saison rund 15.000 Zeilen auswendig lernen, das ist so viel wie jedes Wort in einem 300-Seiten-Buch. Die Stücke wurden deshalb im Kollektiv geschrieben, etwa wie heute die Drehbücher für „Gute Zeiten, schlechte Zeiten“.

Was war das Singuläre an Shakespeare?

Günther:

Er hat simple Vorlagen zu hoch komplexen Stücken erweitert und unauslotbar vielschichtige Individuen gestaltet. Und seine sprachliche Leistung war enorm. Zu seiner Zeit galt er gar nicht so sehr als Theatergenie, er war wohl berühmter für seine Gedichte. Sein größter Erfolg auf dem Theater war „Titus Andronicus“, ein Splatter-Stück, in dem es so blutig zugeht wie in „Die Nacht der lebenden Toten“. Theater war Unterhaltung, kein Kulturgut.

Warum sind seine Stücke übrig geblieben und die vieler anderer Autoren nicht?

Günther:

Er konnte von den Grundphänomenen menschlichen Daseins erzählen. Seine Figuren waren keine Klischees oder Abziehbilder. Sie erzählen von anscheinend wirklichen Menschen, sie enthüllen ihr Seelenleben. Auch heute, Jahrhunderte später, hat man noch den Eindruck, dass diese Menschen leben. Man erkennt sich wieder. Bei ihm haben alle gleichermaßen recht, er wertet nicht, sagt nicht, wie es in der Welt zugehen sollte. So erscheinen seine Figuren wie ein Abbild der wirklichen Welt, ein Mikrokosmos. Er führt die Welt in all ihren Möglichkeiten vor und wählt dazu die Multiperspektive. Shakespeares Zeitgenosse Ben Johnson, beispielsweise, weiß immer alles, er weiß, wer blöd, wer anständig, wer nett ist. Das wird schnell langweilig. Und so ist die Welt auch nicht.

Was haben Sie durch die jahrzehntelange Beschäftigung mit Shakespeares Figuren gelernt?

Günther:

Ich glaube, man lernt nichts, aber man erfährt etwas. Über die absolute Unsicherheit, auf der Vorstellungen von der Welt und von einem selbst beruhen. Shakespeares Figuren müssen sich damit abfinden, dass es keine Gewissheiten gibt, dass sich alles verändert und verschiebt. Auch man selbst. Keine Figur bleibt von Anfang bis Ende dieselbe. Die Menschen durchlaufen ein Mahlwerk extremer Erfahrungen und stehen am Ende als Verwandelte da, ob zum Guten oder zum Bösen.

Sie schreiben, es sei für uns heute leichter, Shakespeare zu verstehen, als für Engländer. Warum?

Günther:

Weil unsere Übersetzungen moderner und verständlicher sind als die Originaltexte. Engländer finden sich kaum noch in Shakespeares Sprache wieder. Sie verstehen die Anspielungen von damals nicht. Käme Shakespeare heut noch einmal auf die Welt, er würde seine eigenen Stücke gesprochen nicht verstehen. Englisch hat sich in 400 Jahren nicht nur phonetisch sehr verändert. Zu Shakespeares Zeit gab es noch kein englisches Wörterbuch, das die Begriffe festhielt. Es war eine unfertige Sprache, in explosiver Entwicklung begriffen. Latein, die bisherige Sprache der Bildung, wurde allmählich durch eine Erweiterung des Englischen verdrängt. So ist im 16. Jahrhundert auch der Wort- und Synonymreichtum des Englischen entstanden: Man kann ein und dasselbe mit unterschiedlichen Wörtern aus germanischer oder lateinischer Stammwurzel ausdrücken. Erst 1770 hatte sich mit dem Oxford Dictionary das Englische konsolidiert. Inzwischen gibt es eine Million englische Wörter. Shakespeare hat den englischen Wortschatz gewaltig erweitert. Er war ein unerhörter Sprachkünstler, er hat Sprachspiele, Neuschöpfungen, Zeitbezüge, Doppel- und Dreideutigkeiten verwendet, die man heute nicht mehr kennt. Die Engländer bräuchten dafür moderne Entsprechungen.

Was war an Shakespeares Sprachschöpfungen so herausragend?

Günther:

Die englische Sprache ist sehr vieldeutig, zum Beispiel gibt es für den Laut [ai] mindestens vier Bedeutunge: I, eye, ay und den Vokal i. Mit so etwas hat er gespielt. Auch das Schriftbild war ungenau, es gab bis zu 20 verschiedene Schreibweisen für einen Buchstaben. Shakespeare konnte damit ungeheuren Schabernack treiben. Aber es war ihm auch Weltprinzip, es hieß: Nichts ist sicher, nichts festgelegt, nichts ist eindeutig, vor allem nicht die Sprache. Sprache ist Lüge. Shakespeare ist ungeheuer virtuos mit allen auch nur denkbaren Sprachvariationen umgegangen.

Wie übersetzt man so etwas?

Günther:

Ich suche nach deutschen doppeldeutigen Entsprechungen, und wenn es sie nicht gibt, gestatte ich mir aber auch, seinen Text umzubauen, um analoge Sprachstrukturen und Sprachspiele zu bauen – erhalten bleiben muss, was gesagt wird, und vor allem, wie es gesagt wird. Inhalt und Form gehören zusammen. Ich möchte ja so viele Shakespeare-Intentionen wie möglich behalten. Ich baue assoziative Wortfolgen, die möglichst genau dem gleichen Spiel, wie sie das Original hat, folgen.

Woher kennen Sie die vielen Bedeutungen der Wörter aus William Shakespeares Zeit?

Günther:

Die bekomme ich aus den unzähligen Fußnoten der englischen Literatur zu Shakespeare. Da arbeite ich oft mit drei, vier verschiedenen Editionen. Was dort nicht drinsteht, kann ich auch nicht wissen. Der Sinn der Shakespeare-Texte ist oft sowieso nur aus den Fußnoten im Englischen ersichtlich.

Sie behaupten, wir hätten Shakespeare mittlerweile in unsere Nationalliteratur übernommen.

Günther:

Er war wichtig für unsere eigene Literaturgeschichte. Im 18. Jahrhundert hatte Frankreich die Oberhoheit über die deutsche Kulturlandschaft. Wie ein Theaterstück aufgebaut zu sein hatte, darüber herrschten strenge Regeln. Shakespeare wurde als „Regelloser“ dagegengesetzt. Wieland, der Erste, der Shakespeare ins Deutsche übertragen hat, konnte kaum Englisch. Er hat es mithilfe eines englisch/französischen Wörterbuchs gemacht. Schlegels Übersetzungen um 1810 stellen Shakespeare als Klassiker neben Schiller und Goethe. Man wandte sich von dem französischen Getue und Geziere ab, setzte auf ein sich emanzipierendes Bürgertum. „Hamlet“, der 1776 erstmals auf einer deutschen Bühne aufgeführt wurde, wurde mit seinem überreflektierten, handlungsunfähigen Träumer als Titelheld zum Leib- und Magenstück aller deutschen Tiefsinnigen. Es gibt kein anderes Beispiel in der Weltliteratur, dass ein fremdländischer Autor so vollkommen in die eigene Nationalliteratur aufgenommen wurde wie Shakespeare in Deutschland.

Welches ist nach all den Jahren Ihr Lieblingsstück?

Günther:

Ich habe keins. Ich mag aber sehr gerne die unkomische Komödie „Wie es euch gefällt“, das Ungetüm „König Lear“ und den juristisch-philosophischen Diskurs „Maß für Maß“.

Übersetzen Sie noch anderes als Shakespeare?

Günther (stöhnt):

Oh, ich habe 70 Folgen „Graf Duckula“ fürs Fernsehen übersetzt, 60 oder 70 Spielfilme, unzählige Serien, Tom Stoppard fürs Theater, viel, sehr viel.

Wenn Sie alle Stücke übersetzt haben, sind Sie dann mit dem Thema Shakespeare durch?

Günther:

Mit dem Thema Shakespeare ist man nie durch, weil es mit dem Leben zu tun hat. Es gibt immer eine Brechung im Leben, die man bei ihm wiederfindet. Aber Shakespeare zu übersetzen ist ja nicht nur die reine Freude. Die größte Leistung daran ist, nicht schreiend wegzulaufen, wenn man wieder mal einen Satz nicht versteht.

Am 28. April (19.30 Uhr) ist Frank Günther im Literaturhaus zu Gast mit seiner „Abenteuerlichen Reise in Shakespeares Sprachwunderwelten“, Eintritt, 6/8/10 Euro. „Der Rest ist Schweigen“: aus „Hamlet“