Olaf Junge gibt Autoren eine Stimme, die in anderen Verlagen kaum eine Chance auf Veröffentlichungen haben – weil ihre Geschichten zu krass sind

Hamburg. „Olaf wurde ins Dunkel geboren. Die ersten vier Jahre lebte er bei seiner leiblichen Mutter. Doch eine Erinnerung daran hat er nicht. Bis heute.“ So beginnt Olaf Junges Autobiografie „Kein Heimvorteil“. Erbaulicher Lesestoff klingt sicher anders, aber viel zu lachen hatte Junge auch nicht, als er seine Entwicklungsjahre mehr schlecht als recht durchlebte – teils bei einer Pflegefamilie, größtenteils aber in Kinder- und Jugendheimen. Ein Kind, das herumgeschubst wurde, statt in den Arm genommen zu werden; ein Jugendlicher, der verwahrt wurde, anstatt gefördert zu werden. Ein Schicksal, das er mit vielen anderen Menschen teilt.

Heute ist Olaf Junge 43 Jahre alt und sagt, dass er eigentlich nichts gelernt habe, außer ein Mensch zu sein. Und dass es ihm dabei, zu seiner eigenen Verwunderung, gelungen ist, sauber zu bleiben. Was bedeutet: keine Drogen, kein Alkohol, keine schiefe Bahn, obwohl er für solch eine Karriere die denkbar besten Voraussetzungen besessen habe.

Stattdessen ist Junge aus dem ewigen Kreislauf der sozialen Hängematte und Gelegenheitsjobs aufgestanden und ist Verleger geworden. Seinen Verlag hat er Underdog genannt – auch weil er selbst einer ist, auf der Leipziger Buchmesse vor ein paar Wochen gab es dafür neugierige Blicke der Messebesucher. Junge sorgt dafür, dass seine Autorinnen und Autoren Erfolgserlebnisse haben, vor allem „Manu B.“, die mit ihrem Buch „Betäubter Schrei“ in Leipzig gleich drei Mal auf die Bühne ging. Es ist die erschütternde Geschichte einer Frau, die in einem Hamburger Krankenhaus von einem Pfleger unter Narkotika gesetzt und missbraucht wird und danach ein jahrelanges seelisches Martyrium durchleben muss. Das Medienecho darauf, sagt Junge, sei zufriedenstellend gewesen.

Noch allerdings reicht das Buchgeschäft nicht zum Leben, weder für den Verleger, noch für seine Autorinnen und Autoren. Es sind kleine Auflagen, 500 bis 600 Stück. Bei Bedarf werde nachgedruckt, aber darum, sagt Junge, gehe es zunächst ja auch gar nicht: „Es geht darum, den Mund aufzumachen, so dass man gehört wird und sich aus der sozialen Opferrolle befreit.“ Dass die bisherigen fünf Erscheinungen aus dem Underdog Verlag sicherlich auch verstörend wirken können, liegt in der Natur der Themen: Es sind Schicksale, die da biografisch oder auch romanhaft erzählt werden, „immer mit brutaler Ehrlichkeit“, sagt Junge, „und absolut authentisch“.

So wie das Buch „UnGlückstadt – Hölle Heim“, von Gerd Meyer oder „Das stinknormale Leben eines Irren“, in dem Torsten Stoffers von seinem Leben hinter den Mauern geschlossener Anstalten berichtet. Es sind einzigartige Lebensgeschichten von Menschen, die ganz unten leben, manchmal noch ein Stückchen tiefer. Das schweißt die Underdogs zusammen. „Von einer Therapiegruppe zu reden, wäre allerdings übertrieben“, sagt Junge und lächelt. Für die Zeit der Leipziger Buchmesse hatte er eine Wohnung gemietet, ein Hotel hätten sie sich nicht leisten können. „Aber die Schreiberei hilft, Geschehnisse zu verarbeiten und sein Leben wieder selbst in die Hand zu nehmen. Es macht schließlich keinen Sinn, sich bloß immer wieder hinzustellen und zu klagen: ‚Ach, ich armes Würstchen!‘“

Junge selbst begann vor sechs Jahren, sein verkorkstes Leben aufzuschreiben, das eine Psychologin über Jahre für ihre eigenen beruflichen Ziele als Experimentierfeld nutzte. Sie hatte ihn dafür extra als Pflegekind aufgenommen. Zwei Jahre brauchte Junge, dann fand er sogar einen namhaften Verlag, doch nach der Abgabe seines Manuskripts war man dort über die teils drastische, ungewöhnliche Offenheit irritiert. Man fürchtete juristische Schritte. Junge wurde deshalb gebeten, sein Manuskript zu entschärfen, zu anonymisieren – „weichzuspülen“, wie er es nennt. Was er nach mehreren Verhandlungsrunden jedoch ablehnte, so dass sein Buch nicht erschien.

Daraufhin suchte er sich über den Verband der freien Lektoren einen Lektor, der ihm bei der Veröffentlichung seiner Geschichte unter die Arme greifen konnte. Und ihm auch dabei helfen sollte, einen neuen Verlag zu finden. So lernten sie sich kennen, Junge und Klaus Middendorf aus Graben bei München, der sich seit Jahren mit seiner Agentur darauf spezialisiert hat, unverdauliche Manuskripte in lesbare Form zu bringen – wenn denn die Geschichte gut ist und wert, erzählt zu werden. Das habe bisher in über 300 Fällen auch geklappt, sagt Middendorf, fast 70. Er war es auch, der den Erstlingsautor dazu ermunterte, einen eigenen Verlag zu gründen, da es seiner Meinung dort draußen noch viele Olaf Junges gibt, die vielleicht nicht unbedingt für eine große, aber doch für eine besonders wahrhaftige Literatur stehen würden.

Und so sitzt Olaf Junge mittlerweile schon im fünften Jahr in seinem knapp acht Quadratmeter großen Verlagsbüro auf privatem Grund: in seiner Drei-Zimmer-Mietwohnung in Hamburg-Bramfeld. Dort prüft er die eingesandten Manuskripte, redet häufig und viel mit Autorinnen und Autoren, klopft die ihm angebotenen Stoffe auf deren Wahrheitsgehalt ab, recherchiert gegebenenfalls nach. Denn Schicksalsgeschichten, umso unfassbarer und dramatischer sie sind, haben nun mal häufig die Eigenschaft, an den entscheidenden Stellen nicht zu stimmen. Jedenfalls nicht so ganz. Und für Junge ist es wichtig, dass die Fälle juristisch sauber und Behauptungen belegbar sind.

Middendorf, regelrecht begeistert von der Zusammenarbeit mit dem Jungverleger, lobt dessen Fähigkeit, die zumeist komplizierten Sachverhalte schon im Vorfeld so akribisch zu strukturieren, dass er sich vor allem auf die Sprachreparaturen konzentrieren kann. „Das habe ich ihm ehrlich gesagt anfangs gar nicht zugetraut“, sagt Middendorf. Inzwischen pflegen sie übrigens eine Freundschaft.

Dass Olaf Junge trotz seines Engagements noch längst nicht von seiner Arbeit leben kann und noch immer auf staatliche Hilfe angewiesen ist, stört ihn nicht. „Denn diese Tätigkeit erfüllt mich“, sagt der Verleger, „sie macht mich zufrieden.“ Zurzeit bastele er mit seinem Rechtsanwalt an dem Plan, seinen Underdog Verlag in ein gemeinnütziges Projekt umzuwandeln. Und wartet, ganz in Ruhe, auf weitere Geschichten mitten aus dem Leben.

www.underdog-verlag.de

Olaf Junge: „Kein Heimvorteil“, Underdog Verlag, 333 S., 19,90 Euro