Krzysztof Urbanski, 31, wird 2015 Erster Gastdirigent beim NDR Sinfonieorchester

Hamburg. Als das NDR Sinfonieorchester der Öffentlichkeit vor fünf Jahren Thomas Hengelbrock als neuen Chefdirigenten ab der Saison 2011/12 präsentierte, bekannte es sich damit zu einem Generationenwechsel, der wohl auch im Hinblick auf die damals vermeintlich baldige Eröffnung der Elbphilharmonie notwendig und überfällig schien. Als habe sich Hamburgs Top-Orchester damit noch nicht ausreichend verjüngt, ist ihm nun mit der Verpflichtung Krzysztof Urbanskis als neuem Ersten Gastdirigenten ein zweiter Coup in Richtung Jugend geglückt, der den ersten an Wirkungsmacht beinahe noch übertrumpfen könnte, ihn aber in gewisser Weise auch schon wieder konterkariert.

Urbanski, 1982 in Pabianice in Polen geboren, wird ab der Saison 2015/16 die Position einnehmen, die derzeit noch Alan Gilbert, 47, ausfüllt. Auch Gilbert war den Jahren nach noch ein junger Mann, als er 2004 den Gast-Job neben dem Chefdirigenten Christoph von Dohnányi, damals 75, antrat. Doch während Gilbert als Sohn zweier Orchestergeiger des New York Philharmonic im Kernmilieu der Klassik aufwuchs und das entsprechende Repertoire sowie die dazugehörigen kulturellen Codes mit der Muttermilch aufsog, kam Urbanski bis zu seinem ersten Teenagerjahr mit klassischer Musik kaum in Berührung. Seit einer Hörerfahrung aber, die einem Initiationserlebnis nahekommt, ist der vor Energie und Selbstsicherheit beinahe berstende junge Mann mit dem spektakulär frisierten Haar, den von einem feinen, dunklen Rand in der Iris umschlossenen tiefblauen Augen und dem Popstar-Mund zum wohl rasantesten Spätzünder geworden, den die klassische Musik auf diesem Niveau je hervorgebracht hat.

Der Vater Kfz-Schlosser, die Mutter Chemikerin. Zu Hause in der Kleinstadt liefen Michael Jackson und New Kids On The Block, und als es darum ging, welches Instrument der Junge an der Musikschule lernen sollte, fanden alle, Gitarre sei das Einzige, das infrage kam.

„Aber die Warteliste war lang“, erzählt Urbanski. „Bei Horn war noch ein Platz frei.“

Bald entdeckte der junge Musikschüler die Hornkonzerte von Richard Strauss. „Ich hatte eine Kassette mit einer Aufnahme mit dem zweiten Hornkonzert“, erzählt er. „Die habe ich immer wieder gespielt, und wenn das Stück zu Ende war, habe ich zurückgespult und es noch mal von vorn angehört.“ Als glühender Jung-Hornist hörte er immer nur auf die Hornstellen. Einmal allerdings war er zu faul zum Zurückspulen, das Band lief weiter. Und nach einer Pause ertönte plötzlich eine andere Musik, eine, die seinem ganzen Leben fortan eine neue Richtung gab: „Don Juan“.

Gewiss, auch im „Don Juan“ gibt es, wie immer bei Strauss, schöne Hornstellen. Aber was den jungen Krzysztof Urbanski so bis ins Mark erschauern ließ, das waren all die anderen Instrumente, mit denen ein Komponist ein Orchester zum Singen, Klingen, Blühen bringen kann.

„Von da an war für mich klar: Ich werde Komponist.“ Mit der wunderbaren Allmacht der Jugend rechnete sich der 13-Jährige reelle Chancen aus, in sieben Jahren etwas Ähnliches zuwege zu bringen wie Richard Strauss, der den „Don Juan“ als 20-Jähriger schrieb, wenn er jetzt sofort mit Kompositionsstudien begänne. „Ich habe dann mit 15 tatsächlich etwas geschrieben, das ich Sinfonie nannte“, bekennt Urbanski. „Wenn ich das heute neben eine Sinfonie von Brahms halte, fühle ich mich so klein mit Hut.“

Das Stück war für Kammerorchester. Kleine Besetzung, notgedrungen, denn in Pabianice gibt es kein Sinfonieorchester. Freunde aus der Musikschule spielten für ihn. „Ich habe das Konzert organisiert, Plakate geklebt, das Stück geschrieben, die Stimmen eingerichtet, die Leute zusammentelefoniert, den Saal nach den Proben ausgefegt. Ziemlich früh bei den Proben sagten meine Kollegen, ‚Kryz, wir können das zwar spielen, aber es wäre einfacher, wenn du das Tempo anzeigst. Kannst du nicht einfach für uns den Takt schlagen?‘ Natürlich hatte ich keinen Taktstock, also nahm ich dazu ein Essstäbchen.“

Nach dem Konzert gestand Urbanski sich ein, dass er als Komponist kein Talent besaß. „Aber mit dem Essstäbchen in der Hand dachte ich mir: Zum Dirigieren reicht es.“

Etwas später nahm die polnische Dirigenten-Legende Antoni Wit den 20-Jährigen als Schüler an. Nach dem mit Bravour bestandenen Konzertexamen assistierte Urbanski dem Maestro als Dirigent bei den Warschauer Philharmonikern. 2007, im Jahr seines Examens, gewann er einen wichtigen Dirigierwettbewerb in Prag. 2009 sagte er seinem Lehrer Antoni Wit dann Adieu.

Seither geht es für Urbanski im Eiltempo bergauf. Erst Chefdirigent, dann auch künstlerischer Leiter des Trondheim Symphony Orchestras. Seit 2011 Chefdirigent des Indianapolis Orchestras in den USA, außerdem erster Gastdirigent des Tokyo Symphony Orchestras. Und nun die Position beim NDR.

Seine Frau hilft ihm beim Ausschreiben der Zeichen in den Orchesterstimmen

Russisches, slawisches Repertoire will er hier vorrangig dirigieren. Eine Partitur braucht er dafür ebenso wenig wie für alles andere, und zwar weder in den Proben noch beim Konzert: „Was ich dirigiere, kann ich nicht nur von der ersten bis zur letzten Note auswendig. Ich kenne jede einzelne Phrase, jede Nuance“, sagt Urbanski. Bei einer Dvorak-Sinfonie könne dieser Aneignungsprozess auch mal ein ganzes Jahr dauern. Seine Frau Joanna Urbanska, mit der er seit seiner ersten Oberschulklasse zusammen ist und die wie selbstverständlich auch bei jedem Interview mit am Tisch sitzt, hilft ihm beim Ausschreiben von allerlei Zeichen und Symbolen in den Orchesterstimmen. Denn um die Probenarbeit effizient zu gestalten, lässt Urbanski die Musiker aus von ihm eingerichtetem Notenmaterial spielen. Er hat es alles gern aus einer Hand – aus seiner.

Das mag autokratisch wirken, soll aber allein dem Ziel dienen, im Konzert das eigene Ego aus dem Weg zu räumen und den Willen des Komponisten, wie Urbanski ihn deutet, bestmöglich wiederzugeben. Er kann mit ansteckender Leidenschaft über Detailfragen von Tempo, Atmosphäre, Artikulation, Phrasierung reden.

Oft fällt das Wort Vision, wenn er von einem Stück spricht. Und wie er sagt, „ich bin ein sehr fordernder Dirigent“, ahnt man, weshalb so manches Orchester auf eine Wiedereinladung dieses Gastdirigenten gut verzichten kann. Zum NDR Sinfonieorchester aber hegt Urbanski eine um so größere Liebe, die augenscheinlich auf Gegenseitigkeit beruht.

Dessen Chefdirigent Thomas Hengelbrock steht für den aufgeklärten, post-antiautoritären Geist der Nach-68er-Generation, für ein Musizieren jenseits antiquierter Herrschaftsverhältnisse, für ein kreatives, intimes künstlerisches Miteinander unter dennoch klarer Führung. Krzysztof Urbanski dagegen lässt in all seinem jugendlichen Ungestüm an einen Dirigenten-Typus denken, von dem man dachte, er gehöre inzwischen der Vergangenheit an. Kein Grund, sich nicht sehr auf die Musik zu freuen, die dieser charismatische Visionär ab der übernächsten Saison in die Stadt hineinklingen lassen wird. Und, hallo, Elbphilharmonie-Touristen von Übermorgen, weit über ihre Grenzen hinaus.