Martin Stadtfeld psychologisierte das Wohltemperierte Klavier beim Konzert in der Laeiszhalle

Hamburg. Es müssen schon echte Klavierfans gewesen sein, die sich am Montag zum Gastspiel von Martin Stadtfeld in der gut gefüllten, aber nicht komplett ausverkauften Laeiszhalle eingefunden hatten. Denn zwei Stunden lang die insgesamt 48 Präludien und Fugen aus dem ersten Band von Bachs Wohltemperiertem Klavier mitzuverfolgen erfordert auch vom Hörer einen Kraftakt der Konzentration.

Wes Geistes Kind ein Interpret ist, verrät meist schon das erste, bei allen Klavierschülern so beliebte Präludium in C-Dur. Macht der Pianist eine kleines Ritardando vor der sonoren Bassnote in Takt 18? Wird er lauter, wenn die Harmonien chromatisch drängen? Kurz, psychologisiert er die Musik oder hält er mit ehernem Strukturwillen Tempo und Dynamik durch? Martin Stadtfeld gehört ganz entschieden zur Psychologenfraktion.

Bachs Noten verraten wenig darüber, wie sie zu spielen sind. Keine Tempoangaben, keine dynamischen Zeichen weisen den Weg. Also muss man interpretieren. Stadtfeld deutet Bach aus dem Geist des 19. Jahrhunderts. Man stellt sich vor, dass Liszt oder Busoni diese Musik so gespielt haben werden. Gewichtige Fugen wie die cis-Moll-Fuge unterwarf Stadtfeld einer großen Steigerungsdramaturgie; und bei den Eintritten der Bassstimme spielte er gerne die ganze Klanggewalt seines Flügels aus. Da klang das Wohltemperierte Klavier dann fast wie eine Orgel.

Wer Bach als Ahnherrn der Romantiker deutet, kommt voll auf seine Kosten

Ausgesprochen pianistisch waren dagegen gerade die Lesarten der ruhigeren, melodischen Stücke wie des Präludiums in Fis-Dur. Hier zauberte Stadtfeld mit der ganzen Feinheit seiner Anschlagskunst kleine romantisch-poetische Charakterstücke. Mehr nach Sportwagen klang die Fuge in G-Dur: satter Sound bei mörderischem Tempo.

Wer immer den vollen Durchblick durch Bachs Kontrapunktknäuel behalten möchte, wird sich schwertun mit Stadtfelds Spiel, auch weil er streckenweise fast auf jeder Achtelnote das Pedal benutzt. So hörte man bei der Fuge in Cis-Dur vor allem die Oberstimme plus tiefes Gebrummel. Wer Bach mit Robert Schumann als Ahnherrn der Romantiker deutet, wird bei ihm dagegen voll auf seine Kosten kommen.

Am treffendsten charakterisierte Martin Stadtfeld sich selbst durch die Wahl seiner Zugaben: Prokofjews Toccata spielte er mit der ganzen Brillanz und Souveränität, wie man sie von einem Pianisten seiner Klasse erwarten kann. Doch die ätzende Schärfe, das Beißende und Brutale dieser extremen Musik vermittelte er kaum. Bei Stadtfeld wird Prokofjew fast schwiegermuttertauglich. Für alle, die dessen Toccata trotzdem erschreckt haben sollte, gab’s gleich im Anschluss eine musikalische Bachblütentherapie mit dem Top-Hit aller Best-of-Bach-Kompilationen, dem Air aus der Orchestersuite Nr. 3.

Da war der Bach-Poet dann ganz in seinem Element.