Als Erster Chefredakteur von ARD-aktuell verantwortet Kai Gniffke von Hamburg aus die Nachrichtensendungen im Ersten

Hier stimmt alles. Fast alles. Die Szenerie in der Baobab Bar des Park Hotels Lindner Hagenbeck in Stellingen ist genau wie in „Jenseits von Afrika“. In der preisgekrönten, gefühlsduseligen Verfilmung der Welt der dänischen Schriftstellerin Tania Blixen, die 1914 in Kenia am Fuße der Ngong-Berge eine Kaffeeplantage aufbaute: schwere, bordeauxrote lederne Clubsessel, männliche Gäste in Zeitungen versunken, eine gut bestückte Bar. Nur einer fehlt: Robert Redford im elegant geknitterten Safarianzug.

Stattdessen kommt Kai Gniffke, 53, in Jeans, dunklem Rolli und ordentlichem Sakko. Erster Chefredakteur von ARD-aktuell und tagesschau24. Ein Mann, der auf den ersten Blick so solide und unaufgesetzt wirkt wie die beiden Säulen der ARD, „Tagesthemen“ und „Tagesschau“. Beide mit Einschaltquoten, von denen andere Sender nur träumen können. 31,8 Prozent Marktanteil, beständig und kaum nach unten oder oben ausschwenkend. „So wie Bayern München. Wir gewinnen fast immer.“ Jeder dritte Zuschauer um die 50 sehe die „Tagesschau“, diese Sendung, die seit Jahrzehnten ganze Familien vor dem Fernseher eint: Gongschlag, Erkennungsmelodie, Stimme aus dem Off: „Hier ist das Erste Deutsche Fernsehen mit der ‚Tagesschau‘.“ Karl-Heinz Köpcke mit unbewegter Miene und sonorer Stimme die Welt erklärend. Das Wetter von morgen. Und aus.

Genau so solle es auch bleiben, sagt Gniffke. „Um 20 Uhr können sich die Zuschauer darauf verlassen, dass ein Mensch am Tisch steht und die Nachrichten von Blatt und Teleprompter abliest, die Welt sortiert.“ Ganz emotionslos und ohne optische Kinkerlitzchen wie heitere oder bedröppelte Mimik. „Das Ding bleibt tabu. Das erwarten die Menschen von uns – eine optische und politische Orientierung.“ 2014 werde sich dennoch einiges ändern, keine Revolution, aber: „Hinterm Sprecher tut sich mehr. Es geht weg von der kleinen Kachel als Bebilderung. Die bewegte Kamera, die die Bedeutung der Fotos prägnanter werden lässt, kommt, Touchscreens ebenso.“ Das alles wurde schon mehrfach angekündigt. In diesem Jahr soll es endgültig klappen.

Doch halt! Ehe wir uns auch noch in den Details der Dauerkonkurrenz von ZDF und ARD verlieren, von „Tagesthemen“ und „heute-journal“, müssen wir dringend einen Cocktail bestellen. Schließlich sitzen wir in einer Bar. Exotische Namen wie Asian Tiger, Walross Deluxe, Affentraum und African Boogie stehen auf der Karte. „Es ist schon dunkel“, stellt Gniffke nach einem Blick aus dem Fenster fest, „dann dürfen wir. Nur nicht so süßlich-cremig sollte es sein.“ Der Kamelhöcker macht das Rennen. Einer für jeden von uns. Zwei Höcker, wie ein Kamel sie nun mal trägt. Eine fruchtige Mischung aus Mandelsirup, Orangen-, Zitronen-, Ananassaft und einem ordentlichen Schuss Rum, natürlich geschüttelt.

„Das lockert die Zunge“, sagt er lächelnd, „und das kann doch äußerst hilfreich sein. Mal sehen, was Sie so hören wollen.“ Nun denn, Kai Gniffke pur. Dieser Mann aus dem Off, der gern von sich mit leiser Selbstironie sagt, dass er genau wisse, wo sein Platz sei. Hinter und nicht vor der Kamera. Auch wenn die Leute glauben, nur wer im Fernsehen auftauche, sei wichtig. Ein gültiger Maßstab? „Nö“, kommt es kurz und entschieden zurück. Nicht für ihn, er mache sich nichts aus Glamour, sei nicht eitel – obwohl er es sein könnte. Großes Gelächter. Bieder sei er und spießig. Gelbklinkerhaus, langjährige und erste Ehe, zwei Kinder in akkurater Mischung, eine Tochter, ein Sohn. Er fegt den Weg vorm Haus, rupft Unkraut unter der Anleitung seiner Frau, trägt den Müll in gelben Säcken raus. Und Socken stopfen könne er auch. So richtig mit Stopfei! „Am Flughafen mit Löchern in den Socken. So was geht nun mal gar nicht!“ Er suhlt sich genüsslich noch ein bisschen in diesen vermeintlichen Schrebergärtner-Eigenschaften.

Und kommt in Fahrt. Entspannt, gut gelaunt, wortreich, heiter und bereit zum großen Gelächter. Ein Strahlemann mit gebleckten – total unaggressiven – Zähnen. Ein glücklicher Mensch, wie er sagt, der meist pfeifend ins Büro kommt, mit dem tollsten Job, den die ARD zu vergeben hat. Darüber komme nur noch eine Akkreditierung als Korrespondent in Rom.

Und schon sind wir wieder bei dem im Wortsinn naheliegenden Fernsehen. Haus 18, die Sendezentrale von ARD-aktuell in Lokstedt, ist gerade hundert Meter Luftlinie entfernt „Siebzehn Uhr“, sagt er nach einem kurzen Blick auf die Uhr. „Zeit für die ‚Tagesschau‘.“ Von nun an kommt sie im Stundentakt. Aber er könne hier ganz entspannt sitzen bleiben, der Plan sei fertig. Alles besprochen, der Laden laufe auch ohne ihn. Wenn nicht, wäre er nicht gut in seinem Job.

Gniffkes Karriere ist unspektakulär. Fleißig und stetig. Man könne ihm alles nachsagen, ärgert er sich ein bisschen, eher pro forma, aber ein Parteiticket als sicheren Listenplatz bei der Postenvergabe innerhalb der ARD habe er nicht. So funktioniere das nicht. Politische Orientierung nach links oder rechts sei egal. Religionszugehörigkeit auch. Dafür aber nannte man ihn vor Jahren gern mal den „Totengräber der Tagesschau“ auf den Redaktionsfluren. Der wenig schmeichelhafte Spitzname entstand, als er den schrägen Vogel aus „Deutschland sucht den Superstar“, Popsänger Daniel Küblböck, in die „Tagesschau“ hieven wollte. Großer Aufruhr. Zu boulevardesk, wurde geschimpft. Für Gniffke gehörte dieses Symbol einer speziellen Form der TV-Unterhaltung trotzdem in die Sendung. So lange keine brandaktuelle, brisante, weltweit aufmischende Meldung den Platz beanspruche. Das sagte ihm sein Bauchgefühl, und damit hatte er recht. Der beste Beweis – und jetzt spießt er sein Gegenüber mit ausgefahrenem Zeigefinger auf: „Selbst Sie wissen seinen Namen noch heute. Mehr als zehn Jahre nach diesem grotesken Auftritt in der RTL-Castingshow.“

Michael Schumachers Skiunfall und die gestauchte hintere Hüftschale von Angela Merkel – musste diese wochenlange Mehrfachnennung auch sein? „Aber ja. Letzteres, sobald es die Koalitionsvereinbarungen beeinträchtigt. Im anderen Fall handelt es sich um einen Menschen von großem öffentlichen Interesse mit Vorbildfunktion.“

Claus Kleber, der ZDF-Moderator vom „heute-journal“, findet „Tagesschau“ und „Tagesthemen“ angestaubt, überlebt, trocken, wie er kürzlich proklamierte. Und außerdem beschäftige die ARD einen Sprecher und keinen Redakteur als Frontmann – anders als das ZDF. Das alles schreie förmlich nach einer frischen Aufbereitung. Gniffke pariert das ungerührt. Die „Tagesschau“ erreichte 2013 so viele Zuschauer wie die Nachrichtensendungen von RTL, ZDF und Sat.1 zusammen. Und außerdem: Wer mag sich denn ARD-Sprecher Jan Hofer herumbalzend mit Caren Miosga vorstellen, so wie Redakteur Claus Kleber es mit Gundula Gause beim Zuklappen seines Laptops so demonstrativ vorführt? Die Abwesenheit der Zweierbesetzung bei der „Tagesschau“, sie ist ein erprobtes Gegenmittel zur übergroßen Nähe der öffentlich-rechtlichen Konkurrenz. Jan Hofers pinkfarbene Krawatte allein reicht bereits für reichlich Aufruhr. So was sei auch das höchste der Gefühle, sagt Gniffke. „Tagesschau“ und „Tagesthemen“ dienten der sachlichen Orientierung der Zuschauer. Nicht mehr, aber eben auch nicht weniger.

Zurück zum Menschen hinter den Nachrichtensendungen: Aufgewachsen ist der in Frankfurt am Main geborene Gniffke in der Eifel, in einem Dorf mit 165 Seelen, Trittscheid. Keine asphaltierte Straße gab es dort, keine Post, keine Apotheke, zwei Kneipen. Ochsenfuhrwerke, keine Mähdrescher, alles Handarbeit. „Für meine Kinder hört sich das an wie frühes Mittelalter.“ Das Äußerste an Vergnügungen gab es in der Üdersdorfer Mühle oder im Haus Liesertal. „Sich ein, zwei Mal pro Woche volllaufen lassen“, das war es dann schon an großer weiter Welt. „Bevor sie da kein Mofa haben, sind sie kein Mensch“, erzählt er. Die nächste Kreisstadt, Daun, mit damals 5000 Einwohnern galt als Metropole. Solange man klein sei, eingebunden in diese enge Welt, mache es einem nichts, erinnert Gniffke sich, bloß mit 15 müsse man raus. Er hat es erst nach dem Studium geschafft und besucht heute Trittscheid, um seinen Kindheits- und Jugenderinnerungen nachzuhängen.

In der Eifel hat er auch seine Frau kennengelernt. Schon im ersten Schuljahr, 13 Jahre absoluter Stillstand folgten. Bei der Abiturfeier kam die letzte Gelegenheit, so Gniffke, und da sei es dann auch passiert. Dies alles erzählt er so unromantisch und karg wie das Voice-over in einer Dokumentation aus Mitteldeutschland. Wenn, ja wenn da nicht immer diese kollernden Lachsalven wären! Beim Abitur, findet er, habe er sich nicht gerade mit Ruhm bekleckert. In Mathe stand er immer auf Fünf. Bis kurz vorm Abitur waren seine Leistungen eher grenzwertig. Aber er hat die Kurve gekriegt.

Wir nähern uns zeitlich der Hauptausgabe der „Tagesschau“. Aber man folgt Gniffke gern in die Eifel und dann nach Frankfurt an die Universität. Zu seinen 22 Semestern, dank der vielen Nebenarbeiten, die die Promotion verzögerten: Küchenreinigen in einer amerikanischen Kaserne, „Dunstabzugshauben vom Fett befreien für 16 Mark die Stunde“. Platten verlegen: „Hier, so geht das.“ An den Ecken hochnehmen und dann gerade einpassen. Er malt das Handwerker-Prinzip locker in die Luft. Und dann die Bundeswehr. „Ach“, begeistert er sich, „was einem beim Erzählen so alles einfällt, sobald man einmal damit anfängt.“ Und das ohne eine neue Kamelhöckerrunde. Wo waren wir? Bundeswehr: Funker. Abhören der Brüder und Schwester in Magdeburg.

Schließlich wollen wir noch die Klischees abhaken, die den Menschen aus der Eifel und Hessen anhängen. Die Eifeler seien konservativ, lebenslustig, sonnenhungrig, gemütlich, querköpfig nachtragend, gottesfürchtig. „Stimmt fast alles“, sagt Kai Gniffke. Nur nachtragend sei er nicht, er könne lediglich beleidigt sein. Mehr sei nicht drin. Und Rum-Muckschen schon mal gar nicht. Das Wort allein sei ihm schon fremd.

Zu den Hessen kommen wir nicht mal mehr. In Haus 18 wird wahrscheinlich schon das Wetter von morgen eingeleitet. Also, los geht’s. Damit wir noch mitkriegen, was heute in der Welt geschah und was morgen auf uns wartet. Los also mit dem wohligen Gefühl, dass es ein wunderbar amüsanter Spätnachmittag war. Es muss dafür wirklich nicht immer Robert Redford sein. Stellingen liegt ja auch nicht in Hollywood.