Im Malersaal erzählt das Performance-Projekt „Perhaps all the dragons“ sehr viele Geschichten

Hamburg. Wer nicht unbedingt lebendige Schauspieler auf die Bühne stellen möchte, weil er die Zuschauer vor allzu aufregenden Momenten schützen will, wählt am besten die Form kleiner Dokumentarfilme. Er zeigt zum Beispiel Filme von 30 Menschen aus aller Welt, die überwiegend wahre Geschichten erzählen. Das hat den Vorteil, dass nicht etwa Handlung von der Erzählung ablenkt.

Das Performance-Projekt „Perhaps all the dragons”, frei nach dem Gedicht „Vielleicht sind alle Drachen unseres Lebens Prinzessinnen, die nur darauf warten, uns handeln zu sehen, sei es auch nur ein Mal, mit Schönheit und Mut.“ von Rilke, geht so: 30 Zuschauer sitzen im Malersaal des Schauspielhauses in einer globalen Dorfkneipe. Das Antwerpener Künstlerduo „Berlin“ hat es in Form einer Ellipse gebaut – mit genau 30 Plätzen mit Bildschirmen. Auf jedem läuft ein anderer Film.

Auf jedem Monitor erzählt jemand in seiner Heimatsprache eine Geschichte mit deutschen Untertiteln. Sie haben mehr oder weniger miteinander zu tun. Den ersten der 30 Sitzplätze darf sich jeder Besucher noch selbst aussuchen, danach geht er auf eine vorgeschriebene Reise nach Jerusalem. Jede Tour hat vier Stationen, alle Geschichten sind exakt gleich lang, so geht der Wechsel der Sitzplätze reibungslos vonstatten.

An vorletzter Position erzählen alle 30 Filmfiguren die gleiche Geschichte: Sie erklären das Prinzip der „Six degrees of separation“, auch bekannt als „Kleine-Welt-Phänomen“-Theorem von Stanley Milgram. Dieses besagt, dass jeder jeden anderen durch eine überraschend kurze Kette von persönlichen Kontakten erreichen kann – über fünf nämlich. Das versinnbildlicht der Abend schleppend. Durch die vorgegebene Stationenfolge landet jeder zum Schluss neben einem Bildschirm, an dem er schon saß. Da nun die Erzähler auf den Monitoren gelegentlich für Momente interagieren, einander also augenscheinlich kennen, ist Milgrams These scheinbar bewiesen.

Weil jeder Zuschauer fünf andere Geschichten hört, hier mein persönliches Premierenerlebnis: Zuerst erzählte ein Russe von seinem fotografischen Gedächtnis. Dann eine englische Mezzosopranistin davon, was es bedeutet, seit 13 Jahren die Carmen zu singen. Es folgte ein französischer Bürgermeister, der ein Dorf bei Verdun verwaltet, das seit langem keine Einwohner mehr hat. Ihm folgte ein Professor aus Israel, der das „Kleine-Welt-Phänomen“ vorstellte und in Bezug zu mathematischen Gesetzen setzte. Abschließend erzählte ein Inder, wie er für tot erklärt wurde und es ihm gelang, 18 Jahre später unter die Lebenden zurückzukehren.

Wer Gefallen an solchen Geschichten findet oder die Kunstform Performance in einer völlig ungefährlichen Variante kennenlernen möchte, hat hier Gelegenheit. Und vielleicht irrte Rilke und alle Prinzessinnen sind Drachen. Aber das wäre eine völlig andere Geschichte.