Buhrufe und Jubel: Eine skandalträchtige Schauspielhaus-Premiere spaltet das Publikum

Hamburg. Schon die zweite Premiere unter der neuen Intendantin Karin Beier hat hohes Skandalpotenzial: Am Deutschen Schauspielhaus gehen die Aufräumarbeiten weiter, nachdem in der Nacht zu Freitag der Orkan „Ariel“ die Bühne verwüstete. Die jüngste Manifestation des Wetterphänomens, das seit Beginn des 17. Jahrhunderts unter dem von William Shakespeare vergebenen Namen „Der Sturm“ durch die Theater tost, ließ – diesmal von der polnischen Wettergöttin Maja Kleszewska entfacht – keinen Stein der Weisen auf dem anderen und hinterließ außer nackten Tatsachen ein Trümmerfeld in einem Schlammbad.

Im Auge dieses Orkans thront ein übermächtiger Josef Ostendorf als Inselmagier Prospero im Rollstuhl. Selbst er wird überwältigt vom Sturm, den er entfacht, bei dem er in jeder Sekunde an diesem wahnsinnigen Abend – mit seinen bewegenden poetischen und irre komischen Momenten – jeden Mitmenschen kontrolliert. In seinem Zorn auf seinen usurpartorischen Bruder Antonio (Yorck Dippe) und dessen Verbündete kennt Prospero außer seiner Tochter Miranda (Lisa Bitter) zunächst keine Verwandten mehr. Seine Gegner stürzten ihn vom Mailänder Thron, sie fallen ihm nun auf der Insel in die Hände, die er mit Zauberkraft beherrscht.

Die von Josef Ostendorf bewegend verkörperte Selbstüberwindung des über seine Verzweiflung hinauswachsenden Prospero, die ihn befähigt, Gnade walten zu lassen, bildet das magische Zentrum dieses Sturms. So einen menschlich kompletten, mitleidenden, selbst in seinem Zorn nahbaren Prospero gab es wohl nie. Und nie kam vermutlich je ein Schauspieler Shakespeare so nah, der im Alter von 47 Jahren mit seinem letzten Stück „Der Sturm“ dem Theater Adieu sagte und den Abschied von der Bühne des Lebens durchspielte: im Bild vom Traum als der wahren Wirklichkeit, die den Wunsch nach unendlichem Schlaf nährt.

Bereits die erste Szene auf der bildmächtigen Bühne von Marcin Chlanda ist vom Winde verweht und zeigt, wohin die Reise geht: Vom Ende des Dramas an den Anfang gerutscht, sehen wir eine zerzauste Hochzeitsgesellschaft beim vergeblichen Versuch, den flatternden Mantel des Schweigens über die Vergangenheit zu werfen. Prospero spuckt die Glückwünsche an seine Tochter Miranda und ihren Bräutigam Ferdinand (Pablo Konrad y Ruopp) gemeinsam mit einem Blutschwall aus. Scherzbold Stephano (Carolin Conrad sprang für die erkrankte Anja Laïs ein) steuert als imaginäre Brautmutter Tischfeuerwerk und als Scherzartikel ein Furzkissen bei. Trinculo (Kathrin Wehlisch) füllt ein Rotweinglas, bis es fast überläuft. Das Geschehen auf der Bühne wird live mittels Camcorder auf eine riesige Leinwand über der Bühne geworfen. Die Technik verlangt den Schauspielern ungeheure Disziplin ab, muss doch jeder Blick sitzen wie im Kinofilm, ohne Chance, die Aufnahme zu wiederholen. Das großartige neue Ensemble meistert die Anstrengung bravourös.

Es folgt der Sturm: Der Inselwilde Caliban (Michal Czachor radebrecht mit kräftigem polnischen Akzent) nutzt den Sprachunterricht bei Miranda zum Inselpietz mit Anfassen, lernt „Bein“, „Oberschenkelhalsknochen“, greift ihr an die Brust, lernt „sekundäres Geschlechtsmerkmal“, greift ihr zwischen die Beine und schreit „primäres“. Prospero verhütet den Versuch Calibans, „die Insel mit vielen kleinen Calibanen zu bevölkern“, ohrfeigt den Ureinwohner angeekelt ausgiebig, verfährt später auch mit Ferdinand so, als der sich nackt seiner Tochter nähert, obwohl er ihn schließlich als Schwiegersohn akzeptieren muss. Derweil fallen die erwachsenen Kinder im Stück immer wieder in kindliche Verhaltensmuster zurück. Miranda ruft: „Papa, komm, wir spielen Verstecken!“

Die Regie aber verbindet wohlkomponiert die Ebenen körperlicher und psychologischer Reflexe. Luftgeist Ariel, Sachiko Hara gibt ihn mal als Lady Gaga im surrealen Kostüm teddybärbehängt mit kitschig-rosafarbener Plastikperücke mal als Dienstboten im Jogginganzug, entfacht auf Prosperos Anweisung hin die weiteren Sturmstufen.

Dem nächsten Sturm fällt der wie Karl Lagerfeld zurechtgemachte Fürst Alonso (Michael Weber) samt Sohn Ferdinand zum Opfer. Wechselweise suchen sie einander zu reanimieren, wenn Ariel den jeweils anderen ohnmächtig daliegen lässt. Zwischen Antonio und Alonso entfaltet sich eine herrlich choreografierte Schlägerei, von der beide Sekunden später nichts mehr wissen. Dazwischen dirigiert Ariel per Leucht-Dildo den Sex zwischen Miranda und Ferdinand.

Ein Hort der Komik wie der Vulgärsprache, des Sexismus und Rassismus sind die Szenen, in denen Shakespeares komische Personen Stephano und Trinculo auftreten. Bei Kleszewska reisen die beiden als Sextouristinnen nach Afrika, wo sie Caliban (der dann nackt weiterspielt) fürs Strippen und Sex bezahlen. Derweil sie mit Deutschlandfähnchen das Bild der hässlichen Deutschen verkörpern, zeigt das Bühnenkino Dokumentaraufnahmen von Afrikanern, die von ihrer lebensgefährlichen Flucht durch mehrere Staaten nach Europa berichten. Schließlich stürmt eine afrikanische Trommler-Truppe die Bühne und legt einen Stammestanz hin. Im wahnsinnigen Zustand hält Stephano sich schließlich für Jesus und als solcher eine Berg-und-Tal-Predigt, die Trinculo in einer frei erfundenen Gebärdendolmetschersprache irrsinnig komisch übersetzt.

So krass die Darstellung struktureller Gewalt politisch gerät, so exakt ist sie in persönlichen Beziehungen, geht unter die Haut. Ariel liebt Prospero, der haucht auf ihre Frage: „Liebst du mich, mein Gebieter“, ergreifend „Ja“. Zum Schluss versenkt Ariel alle Beteiligten in einer großen Schlammschlacht. Menschen werden Geister. Prospero lässt ein letztes Mal die Pistole sinken, die er nie benutzt hat.

Durch das zerzauste Publikum lief eine Schneise: Auf der einen Seite entfachte die Inszenierung Stürme der Begeisterung, die sich in prasselndem Applaus niederschlugen, auf der anderen entluden sich Stürme der Entrüstung in einem Gewitter donnernder Buh-Rufe.

„Der Sturm“ Schauspielhaus, 26.1., 16., 23.2.