Regisseurin Jette Steckel überfrachtet Gerhart Hauptmanns Stück „Die Ratten“ am Thalia mit Theatertheorie. Die Verbindung von Inhalt und Nachdenken über die Form geht hier nur bedingt auf.

Hamburg. Wer wissen will, wie die Verhältnisse sind, muss manchmal auf den Dachboden steigen. Die Thalia-Bühne ist leer, nur zwei Scheinwerfer illuminieren die Schauspielerin Alice Rütterbusch (Franziska Hartmann), wie sie sich in einem beeindruckenden, aber reichlich staubigen Federkostüm rekeln. Zum Unwillen des grantigen Schauspieldirektors Hassenreuter, den Karin Neuhäuser unter einer perfekt sitzenden Maske mit kahlem Schädel als etwas kuriose Parodie des Thalia-Intendanten Joachim Lux gibt.

Regisseurin Jette Steckel belässt den Kostümfundus aus Gerhart Hauptmanns Stück „Die Ratten“ auf dem Dachboden einer Berliner Mietskaserne, sie führt ihn als staubigen Ort des „Oben“ vor, der klassischen Erbauung durch die Kunst und der Bürgerlichkeit. Und sie konterkariert ihn mit dem „Unten“, einem proletarischen Elendsmilieu der Aussortierten. Damit bleibt die Regisseurin ganz nah beim Autor und seinem 1911 uraufgeführten Sozialdrama.

Doch das allein reicht Jette Steckel nicht. Die aktuellen Fragen nach Glaubwürdigkeit und Wahrhaftigkeit auf dem Theater treiben sie um. Und so ergänzt sie das meistgespielte Werk des Naturalisten mit Auszügen aus Maxim Gorkis „Nachtasyl“ und einer Reflexion Einar Schleefs („Die Schauspieler“) über Repräsentation auf dem Theater. Die Bühne, die bei Florian Lösche karg bleibt, bis auf die gelegentlich aus dem Schnürboden herabgelassene Einbauküche, wird bei ihr zum Denkraum über die Wirklichkeitsmaschine Theater, was den Abend öfter zu überfrachten droht.

Denn es gilt ja auch, den Elendsnaturalismus zu erzählen, was Steckel und die durchweg ausgezeichnete Darstellerriege in breitem Berliner Dialekt detailgetreu tun. Lisa Hagmeister gibt die vom Leben wenig hofierte Frau Jette John mit kindlichem Glauben an das kleinbürgerliche Familienglück, das sie nach dem von Jörg Pohl akkurat ins Milieu eingepassten Maurerpolier Paul greifen lässt. Um ihm seinen Familienwunsch zu erfüllen, beschließt John, die selbst keine Kinder bekommen kann, eine radikale Tat. In ihrer Not bedient sie sich bei dem polnischen Dienstmädchen Pauline, das ihr ein ungewolltes Kind überlässt – Maja Schöne lässt sie immer dicht am Rand der Verzweiflung wandeln.

Die Fassade scheint perfekt. Die Einbauküche blitzt, das helle Kostüm der Jette John sitzt. Doch die mörderische Tragödie nimmt ihren Lauf, als Pauline ihr Kind überraschend zurückbegehrt. Zwischen himmelhochjauchzend und vom Unglück niedergekrümmt spielt Hagmeister die Wandlung der Jette John von der so entschlossenen wie verletzlichen jungen Unterschichtenheldin zur Furie der Grausamkeit durch. Am Ende überlässt sie ihrem gewalttätigen Bruder Bruno (Thomas Niehaus) die Drecksarbeit.

Schauplatzwechsel. Zurück zum Dachboden, wo der Theaterdespot Hassenreuter mit Schauspielschülern wie dem Theologiestudenten Spitta (Mirco Kreibich) Ausdruck und Artikulation übt. Das ist grotesk überzeichnet und bietet dem beweglichen Kreibich erneut Gelegenheit, alle Register eines Hanswurst zu ziehen. Spitta gilt das Theater als Ort dicht an der Wirklichkeit. „Das Theater bildet nicht Wirklichkeit ab, Theater ist Kunst, ist Spiel“, rückt ihn Hassenreuter zurecht.

Steckel verhandelt das alles mit viel psychologischem Spiel

Nach und nach vermischen sich die Ebenen von „Oben“ und „Unten“. Catrin Striebeck gibt Sidonie Knobbe, einen dem Alkohol verfallenen Ex-Bühnenstar. Um einen brennenden Supermarktwagen gruppieren sich die Unterprivilegierten zu einem bizarren, innerhalb der Inszenierung aber seltsam fremd wirkenden Tanz aus Gewalt und Sucht. Steckel verhandelt alles mit viel psychologischem Spiel und der manchmal arg illustrativen Folk-Musik des Duos Dieter Fischer und Markus Graf.

„Es ist doch alles gespielt, es darf nur keiner was merken“, dieser Satz beschäftigt die Regisseurin zweieinhalb Stunden lang. Symptomatisch werden sich in einer fast schon naiv-realistischen Liebesszene nicht nur Spitta, auch die Direktorentochter Walburga (wiederum Franziska Hartmann) beherzt Perücken und Kleider vom Leib reißen. „Mensch sein heißt doch Schauspieler sein. Menschen sein heißt doch einen Menschen spielen, sich benehmen wie ein Mensch, ohne einer zu sein… Walburga, ich höre auf zu spielen“, sagt Spitta.

Hauptmanns Tragikomödie stellt nicht nur das kleinbürgerliche Elend dem bürgerlichen Milieu gegenüber, sondern auch eine zu seiner Zeit klassische gegen eine moderne Auffassung von Theater. Ein Gedanke, den Jette Steckel in ihrer Arbeit weiterspinnt. So verständlich der Ansatz ist, er trägt nicht zu einem geschlossenen Theaterabend bei. Die Verbindung von Inhalt und Nachdenken über die Form geht hier nur bedingt auf. Und so bleibt am Ende einiges wegzukehren. Das Leben, das Theater, bleibt „Zitzifusarbeet“.

„Die Ratten“ wieder am Do 23.1., 20 Uhr, Thalia Theater, Karten: T. 32 81 44 44