Vor 100 Jahren wurde der Schriftsteller Arno Schmidt in Hamburg geboren

Bargfeld. Schwer vorstellbar, dass dieses biedere Gebäude den Zugang zu einem literarischen Werk eröffnen könnte, das mit seiner eigenwilligen Erzählweise, mit experimenteller Orthografie und Interpunktion so radikal anders, so sprachspielerisch vertrackt ist, dass es auch nach Jahrzehnten noch Vorstellungsvermögen und Geduld des gemeinen Lesers überfordert. Doch der unscheinbare Klinkerbau am Rande des abgelegenen Dorfes Bargfeld bei Celle ist seit mehr als 30Jahren die Heimat der Arno Schmidt Stiftung und gewissermaßen das Entree zu einem der sehenswertesten literarischen Orte im Lande, auch für Schmidt-Unkundige.

Susanne Fischer öffnet die Tür, und wer eintritt, stellt mit Blick auf die Bilder einer kleinen Ausstellung, die im Foyer beginnt, sofort fest, dass er hier richtig ist. Gleich am Eingang ein Gemälde mit ironischem Zeitkolorit, das Arno Schmidt neben einer Isetta zeigt. Nicht ganz ernst gemeint ist auch das kleine gerahmte Foto gegenüber mit den drei Personen darauf, die offensichtlich eher ungern als Motiv herhalten. Die Gastgeberin kommentiert es spöttisch: „Und das sind die Herbergseltern.“ Zu sehen ist der Stifter Jan Philipp Reemtsma mit seinen verdienten Mitarbeitern vor Ort, nämlich Susanne Fischer und Bernd Rauschenbach, die sich um den kompletten Nachlass Schmidts kümmern und sein Werk in den gesicherten Texten der „Bargfelder Ausgabe“ edieren.

Am 18. Januar 1914 wurde Arno Schmidt in Hamburg-Hamm geboren. In Bargfeld war er nach zahlreichen Ortswechseln heimisch geworden. Das Dorf wurde zu dem Ort, an dem er bis zu seinem Tod 1979 mit einem geradezu übermenschlichen Pensum an seinen Hauptwerken arbeitete. 1958 hatten Alice und Arno Schmidt das kleine Haus am Ortsrand erworben. Schmidts Spätwerk „Zettel’s Traum“ machte ihn 1970 als Autor des größten, schwersten und schwierigsten deutschen Romans berüchtigt. Das Buch- und Sprachungetüm wurde zum Synonym für unzugängliche Literatur.

Es ist nicht das geringste Verdienst von Jan Philipp Reemtsma, dass er mit der Stiftungsarbeit viel vom Geist bewahrt hat, indem er im Wohnhaus fast alles so belassen hat, wie es beim Tode der Schmidts war. Im Besucherraum erzählt Reemtsma, wie es damals war, als er, der Erbe eines großen Vermögens, den verehrten Autor Schmidt durch ein Geldgeschenk in Höhe der damaligen Literaturnobelpreis-Dotierung von finanziellen Sorgen befreien wollte. Arno Schmidt starb jedoch schon kurz danach, und Reemtsma beriet die Witwe Alice, wie mit dem Nachlass verfahren werden könnte. Als auch sie 1983 starb, wurde die Stiftung zur Alleinerbin aller Rechte am Werk.

Eine Aufgabe, für die es kein Patentrezept gab, die also sozusagen Learning by Doing zu meistern war. Inzwischen ist das Werk fast komplett ediert, einige Briefbände stehen noch aus, die Digitalisierung der berühmten Zettelkästen ist noch nicht abgeschlossen. Das Ziel war eine Werkausgabe, die gesicherte Texte leserfreundlich vorlegt, ohne akribisch den letzten Schnipsel aus dem Nachlass zu dokumentieren – was in Schmidts Sinne ist, der sich über Philologeneifer lustig machte, obwohl er selbst als Autor auch noch den letzten Schnipsel aufbewahrte. „Es ist bei Schmidt, insbesondere beim Faksimile von ‚Zettel‘s Traum‘, nicht in jedem Einzelfall leicht zu entscheiden, was Tippfehler ist und was vom Autor – Schmidt selbst hätte vermutlich sein Vergnügen daran gehabt, uns die Hucke vollzulügen“, sagt Reemtsma. Susanne Fischer hofft, dass sich in der Schmidt-Rezeption die Perspektive so verschiebt, wie das bei den Literaturwissenschaftlern inzwischen schon der Fall ist: „Dass die Texte als komplexe Gebäude, nicht als Ratespiel behandelt werden.“

Fischers Beharrlichkeit ist die Veröffentlichung der Tagebücher von Alice Schmidt aus den 50er-Jahren zu verdanken. „Der Nutzen war anfangs umstritten. Es hieß, wir machen uns lächerlich mit diesen Notizen einer naiven Schreiberin“, erzählt Fischer. Doch längst ist klar, dass die Tagebücher das Wissen um die Schmidts bereichert haben. Fischer: „Die Texte sind zeithistorisch interessant und verraten viel über die schwierigen Existenzbedingungen der beiden. Von den wenigsten Paaren wissen wir so viel. Er hätte ohne sie nicht überleben können. Sie war Zuarbeiterin und sein Filter zur Außenwelt. Und sie hat nicht auf das gepocht, was sie wollte. Sie hatte im Gegensatz zu ihm das Bedürfnis nach viel Kontakt mit der Welt und fand mit den Jahren mehr Freiräume.“ Schmidt kommentierte das zuweilen spöttisch, etwa einen Einkaufsausflug seiner Frau: „Ein vergnügungssüchtiges Persönchen, das in Celle Rolltreppe fahren möchte.“

Dass Frau Schmidt beim Einkauf leichtsinnig geworden wäre, ist nicht zu vermuten. Ihre Haushaltsführung war mehr als kostenbewusst. Was noch zu gebrauchen war, wurde aufbewahrt. Wer bei der Besichtigung des Hauses das Gefühl hat, er bewege sich in einem volkskundlichen Museumsraum, liegt nicht falsch. Kürzlich entdeckte eine Expertin, dass bei Schmidts noch ein unbekannter Schatz verborgen war: ein zusammenhängender Textilnachlass von einfachen Leuten, mit Stücken, die sich auf Fotos aus den 30er-Jahren identifizieren lassen. Seither wird gründlich inventarisiert.

Besucher dürfen das Wohnhaus in Kleingruppen besichtigen. Sie erfahren unmittelbar die Enge, staunen über den Zustand und bekommen in einer Umgebung, die noch immer bewohnt wirkt, rasch das Gefühl, dem Autor und seiner Frau näher zu rücken, als es ihnen angenehm ist. „Es reicht eine halbe Stunde im Bibliotheksraum, um sich unbehaglich zu fühlen. Und wenn ich eine Schublade öffnen muss, dann habe ich ein schlechtes Gewissen,“ sagt Bernd Rauschenbach, der seit 30 Jahren für die Stiftung arbeitet. Trägt der authentische Lebensraum zum Werkverständnis bei? Jan Philipp Reemtsma: „Es gibt Leute, für die es sehr wichtig ist, das zu sehen. Mir persönlich ist es nicht so wichtig. Es ist aber wichtig, es zu erhalten – nicht als literaturtheoretisches Programm. Das Werk braucht es nicht, aber es wird greifbar.“

Ein weiterer Schatz, den die Stiftung entdeckt hat und pflegt, ist Erika Knop. Sie war von 1967 bis zum Tode von Alice 1983 bei Schmidts als Haushaltshilfe beschäftigt.

Eine liebenswerte, patente ältere Dame, die das Haus im Auftrag der Stiftung noch immer in Schuss hält und inzwischen gerne auch Führungen übernommen hat. Ihr Verhältnis zu den Schmidts bringt sie auf eine kurze Formel: „Viel Vertrauen, aber Distanz.“ Sie arbeitete mehrmals in der Woche im Haus, vormittags drei bis vier Stunden. Zum Ritual gehörte das Kaffeetrinken mit Alice Schmidt. Er setzte sich öfter dazu und fragte: „Na, Frau Knop, was gibt‘s Neues in der Welt?“ – „Die große Welt, die er meinte, war Bargfeld mit seinen 170 Einwohnern, die er fast alle beim Namen kannte. Er hat auf Spaziergängen auch ein Wort mit den Leuten gesprochen, und die Schmidts haben auch mal Geld für ein Feuerwehrfest gespendet.“ Sie erinnert sich noch gut an die Zeit, als er „Zettel‘s Traum“ schrieb: „Da war er oft sehr abwesend, erzählte und lachte vor sich hin. Er war ganz für sich, sogar die täglichen Spaziergänge ließ er ausfallen. Und als er 1969 fertig war, hat er mit uns angestoßen – jeder bekam ein volles Wasserglas Johnny Walker. Nach ‚Zettel‘s Traum‘ war er völlig kaputt. Er ist am Ende um 1 oder 2Uhr aufgestanden, hat sich mit Nescafé und Cognac darin wachgehalten und bis morgens geschrieben. Seine Woche hatte 100 Stunden – er hat sich totgearbeitet.“

Gelassen bleibt sie, wenn Fans bei den Führungen sie mit vielen Fragen zu Arno Schmidt bestürmen: „Für mich war das nicht der große Meister, das war Herr Schmidt.“