Eine Wiederentdeckung: Richard Hughes’ Roman „Orkan über Jamaika“ erzählt von der schuldigen Unschuld

Es ist alles ein Riesenspaß auf dem Schiff der Piraten, weil Kinder sich schnell an neue Situationen gewöhnen. Sonst hätten die fünf Geschwister, die von Mr. Und Mrs. Bas-Thornton, ihren Eltern, zurück nach England geschickt werden, nicht so bereitwillig die Reise angetreten, die aus der Karibik nach Europa führt. Als sie unterwegs in die Hände der Kriminellen fallen, ist das nicht weiter schlimm. Im Gegenteil: Bei denen lässt es sich aushalten. Es gibt sogar einen Affen an Bord.

Aber auch Mord und Totschlag, sexuellen Missbrauch, Saufgelage, Verwahrlosung. Richard Hughes’ nun neu übersetztes Werk „Orkan über Jamaika“ erzählt eine beunruhigende Geschichte, die formal wohl zur Gattung des Abenteuer- und Seefahrtromans gehört. Unterspült wird der Text allerdings von einer Thematik, die grundsätzliche Fragen nach den Bedingungen des Menschseins stellt – und die Abenteuer der Heranwachsenden, die ohne Aufsicht über das Meer fahren, in ein kaltes Licht setzen.

„Orkan über Jamaika“ erschien erstmals 1929 und setzte romantischen Verklärungen der Kindheit radikal ein Ende. Andererseits sind die Erlebnisse der Geschwister, die gemeinsam mit zwei weiteren Sprösslingen von auf Jamaika beheimateten Kolonialisten der elterlichen Sphäre entzogen werden, auch ein Beleg für die oft festgestellte Grausamkeit, die in einer bestimmten Spielart nur Kindern eigen ist.

Es ist das 19. Jahrhundert, die Kinder wachsen unter paradiesischen Zuständen auf: Nach dem Ende der Sklaverei verfallen Zuckerrohrplantagen und Herrensitze: Die Ruinen sind ein anarchischer Spielplatz, Badeteich und Strandausflüge unterhaltsame Selbstverständlichkeiten. Dann fegt ein Sturm die Behausung der Familie Bas-Thornton hinweg.

Emily und John, die beiden Ältesten, stehen an der Schwelle zur Pubertät, aber eine gewisse Reife hinsichtlich dessen, was sich im Hinblick auf Mitmenschen schickt, fehlt ihnen: Als im Sturm der Familienkater Tabby abhanden kommt, betrauern sie das mehr, finden aber kein Wort des Bedauerns über einen Ex-Sklaven, der vom Blitz erschlagen wird.

Vielleicht, weil der Rassismus zu ihrer christlichen Erziehung gehört und sie es nicht besser wissen. Auf den toten Tabby wird der nie moralisierende und oft ironische Erzähler später zurückkommen, als die Lauterkeit der Kinder noch mehr infrage steht als in jenem stürmischen Prolog. Einstweilen erleben sie auf See eine Fortsetzung der Outdoor-Bespaßungen, wie sie sie aus ihrem Elternhaus kennen. Das Kapern eines holländischen Schiffes mit den Piraten ist nur ein weiteres Abenteuer, wie überhaupt das Bewusstsein, etwas Unrechtem beizuwohnen, in den Hintergrund rückt.

Die „Piraten“ stellen eine im Grunde spießige Schwundstufe der Vorstellungen dar, die sich sonst mit ihnen verbinden. Augenklappe trägt an Bord des Schoners, der eher unorientiert durch die Karibik schippert als gezielt, jedenfalls niemand. Aber die Kinder schließen Freundschaft mit den Entführern wider Willen: mit dem dänischen Kapitän Jonsen, der sich in seine Heimatstadt Lübeck und an den Kachelofen sehnt, und dem Maat Otto, der aus Wien stammt und in Wales aufwuchs.

In einem bemerkenswert unaufgeregten Ton schildert Hughes, 1900 in England geboren und 1976 in Wales gestorben, den Einbruch des Ungeheuerlichen in die Welt der Kinder: Das älteste Mädchen, Margaret, wird die Geliebte des Maats. Die Affäre paralysiert sie; instinktiv wissen ihre Altersgenossen, dass sie jetzt zu den Erwachsenen gehört und dass damit etwas nicht richtig ist – sie meiden Margaret fortan.

Die Logik des kindlichen Denkens, das im Gegensatz zu dem erwachsenen auf unverhohlene Weise egoistisch ist, äußert sich in diesem knapp 250 Seiten langen Buch, das im englischen Original „A High Wind in Jamaica“ heißt und zum Kanon der angloamerikanischen Literatur gehört, meistens in den Handlungen Emilys. Sie ist die Hauptfigur des Romans. Und sie ist es, die Blut an ihren Händen hat – dennoch werden die in dieser Hinsicht unschuldigen Piraten nach der Rückkehr in England verurteilt. Demnach liegt die rabenschwarze Weisheit von „Orkan über Jamaika“ in der Beobachtung, dass die schlecht Beleumundeten gar nicht so schlecht sein müssen, und die angeblich Unbefleckten gar nicht so rein sind, wie sie zu sein scheinen.

Nach „In Bedrängnis“ ist „Orkan über Jamaika“ der zweite Roman Richard Hughes’, den der Münchner Übersetzer Michael Walter zeitgemäß neu ins Deutsche bringt. Das ist vor allem deswegen gut, weil dieses feine, in seiner Aussage überzeitliche Buch nun wieder entdeckt werden kann.

Richard Hughes: „Orkan über Jamaika“. Dörlemann. 253 S., 19,90 €