Der Buchautor, Journalist, Film- und Literaturkritiker Hellmuth Karasek wird an diesem Sonnabend 80 Jahre. Seine Tochter Laura weiß: Mit ihm ist es nie langweilig.

Gewiss war ich kein Wunderkind – aber in meinen Augen war mein Vater ein Wunder-Papa. In der Grundschule wusste ich vor den staunenden Augen meiner Mitschüler stets davon zu berichten, dass mein Vater sieben Sprachen konnte. „Mein Papi kann alles! Russisch, Polnisch, Deutsch, Englisch, Tschechisch, Französisch, Slawisch, Abrakadabrisch“, irgendwas aus dem Osten, vielleicht auch Italienisch (jedenfalls hatte ich ihn in diversen Opern leidenschaftlich mitsingen gehört. Und das ging ja wohl kaum ohne perfektes Italienisch). Erst später, viel später sollte ich erfahren: Er konnte weder Russisch noch Polnisch. Und als er in Frankreich einen „üüüne doppelte Exxprresso“ bestellte und der Kellner in fragend ansah, ihm dann eine englische Karte für seine Kaffeebestellung reichte, musste ich entsetzt feststellen: Auch Französisch konnte ich streichen. Er war ein ganz normaler Papa mit zwei Augen, zwei Beinen und zwei Sprachen. Fast zwei. Während eines Urlaubs in der Karibik fragte er die Bedienung nach einem Digestif, einem Rum: „Do you have a rrrooom?“ (Auch die Tatsache, dass er das R rollte, machte die ganze Sache mit den sieben Sprachen nicht einfacher) „The restrooms are right over there.“ Die Bedienung zeigte freundlich Richtung Toilette. Und er blieb durstig.

Aber zurück zu meiner Kindheit, zu der Zeit, in der ich an seine Unfehlbarkeit, seine Unbesiegbarkeit, seine sieben (oder waren es neun?) Sprachen und an alles an ihm und um ihn herum glaubte. Er nahm mich als Vierjährige mit nach Salzburg in die Oper, er las mir Gedichte vor, Bertolt Brecht und Goethe, er schenkte mir seinen ersten Rilke-Gedichtband, er zeigte mir Wilhelm Busch, er sang lauthals Mozart-Opern mit mir oder jaulte zu Frank Sinatra – und er weinte (auch während er sang). Er weinte in der Oper, er weinte, wenn ich Klavier spielte (obgleich ich mich oft verspielte), er weinte beim Anblick einer Dollar-Note („Die Amerikaner haben uns damals befreit!“). Ich war seit frühester Kindheit mit weinenden und doch unerschütterlichen Männern vertraut. Für mich war er das Größte. Er langweilte mich nie.

Jeden Sonntag ging er mit meinem Bruder und mir Tennis spielen. Danach kochte er, es gab endlose Braten-Variationen, Osso buco, Schnitzel, Geschnetzeltes mit Morcheln, Steaks, Hauptsache Fleisch. Von vegetarischem Essen hielt er wenig. Ich sehe ihn vor mir, wie er an brodelnden Töpfen in der Küche hantiert und ein Chaos aus Butterklecksen und Mehlhaufen anrichtet (auch in seinem Gesicht und auf seinen Händen, an seinen Fingern klebte regelmäßig Petersilie oder Koriander), meine Mutter kommt kaum hinterher, die aufgerissenen Reispackungen und Gewürze in die Schränke zurück zu räumen. Sie assistiert ihm. Und darf den Salat machen.

Später übernahm mein Bruder die Pfanne in der Küche und tauschte sich mit meinem Vater über Rezepte und Zubereitungsarten aus. Ich hingegen bringe bis heute kaum ein Spiegelei oder Erbsen und Möhrchen aus der Dose richtig zustande. Das Kochen schaffte eine wundervolle Verbündung zwischen meinem Bruder und unserem Vater. Ich war mehr für die gefühligen Dinge zuständig, für Opern und Gedichte – und auch für Tränen. Ich war eine regelrechte Schreihälsin als Mädchen. Türen knallten, Kissen flogen, manchmal schmiss ich mit Obst oder warf mich selbst pathetisch zu Boden – und das, obwohl ich nie mit lateinamerikanischen Telenovelas in Berührung gekommen war. Damals wollte ich Schauspielerin werden. Und mein Vater gab mir eine Bühne.

Vielleicht hatten die vielen gemeinsamen Opernbesuche mich inspiriert. Aber wir spielten zu Hause nicht nur die Zauberflöte oder La Traviata, wir spielten auch Skat und würfelten Kniffel. Es war immer laut und lebhaft bei unseren Spielabenden mit Tabu, einem Spiel, bei dem man seinem Mitspieler Begriffe erklären muss, ohne bestimmte Tabuwörter zu verwenden. Mein Bruder und ich verstanden uns mit wenigen Worten, wir hatten ähnliche Assoziationen, Gemeinsamkeiten. Mein Vater erklärte sehr umständlich, er fing meist mit der Schilderung einer Theaterinszenierung aus den 70er-Jahren an, in der einer der Hauptdarsteller im zweiten Akt etwas in der Hand hielt, und wenn man daraufhin nur hilflos Begriffe wie „Souffleuse“ oder „Schiller“ in den Raum warf, winkte er ungeduldig ab, versuchte es dann mit einem Zitat von Nietzsche oder Kierkegaard und machte einen kleinen Abstecher zu Freud, um einen schlichten Begriff wie Tomate zu erklären. Die Zeit war abgelaufen. Null Punkte.

Doch dann kam die Pubertät: Vorbei war’s mit den Gedichten, der Oper, dem Tennis.

Jeden Sonntagmorgen gab es elende Diskussionen zwischen meinem Bruder und mir, wer sich aufopfern und mit unserem Vater Tennis spielen gehen müsse. „Ich war schon letzte Woche, heute bist du dran!“ maulten wir verkatert aus unseren Betten. Wir riefen lauthals über den Kopf unseres Vaters hinweg, der verdutzt zwischen unseren beiden Zimmertüren hin- und herschaute (wie ein Zuschauer bei einem Tennismatch) und mit baumelndem Schläger in der Hand darauf wartete, dass einer von uns sich erbarmte, mit ihm ein paar Bälle zu schlagen. Wir waren gemein. Er war nicht mehr der Größte.

Er war mir peinlich. Damals fuhren wir im Sommer gemeinsam an den Wörthersee. Jeden Abend spielte eine sechsköpfige Band in unserem Hotel, es gab Erdbeerbowle (meine ersten Rauscherlebnisse) und Tanz. Doch sobald mein Vater sich von seinem Platz erhob und zum Schwof ansetzte, wedelte ich scheuchend mit den Händen, mit panisch hastigen Bewegungen und entsetztem Blick, setz dich, platz, sitz, als würde ich einen Hund davon abhalten wollen, einer alten Dame ins Bein zu beißen. Ich war doch jung – und er alt. Wie konnte er es wagen, mit uns Teenagern die Tanzfläche zu stürmen!

Dort spielte ich plötzlich auch wieder begeistert Tennis – allerdings nicht mit meinem Vater, sondern mit einem Bulgaren mit schwarz behaarten Armen und grünen Augen. Mein Vater wunderte sich, warum ich täglich vergnügt im weißen Röckchen zu den Trainerstunden hüpfte. Sein unschuldiger Blick auf die Tochter ließ den Gedanken nicht zu, dass diese sich längst in den 15 Jahre älteren Tennislehrer verguckt hatte. Es war eine hoffnungslose Liebe. Doch mit 13 ist man noch genügsam: Die Schwärmerei allein reichte mir vollkommen, die Gewissheit, ihn jeden Tag zu verabredeter Uhrzeit zu sehen, seine behaarte Hand auf meinem Handgelenk zu spüren, während er mir gleitend die Rückhand vorführte, ich erwartete nichts. In der Liebe ist der Jugendliche bescheiden. Doch das sollte sich ändern.

Mein Vater hatte mich als Mädchen stets wie seinen Augapfel behandelt und auch so genannt. Ich war seine Prinzessin auf der Erbse, seine Zuckerschote, das Größte für ihn.

Umso brutaler traf mich der Schlag der Zurückweisung in den ersten Jahren meiner Liebesversuche. Nicht jeder Mann war gleichermaßen angetan von und nachgiebig mit mir wie mein Vater. Ich hatte zu Hause nie den Müll herunterbringen müssen – und auf einmal musste ich Säcke voller Beziehungsmüll schleppen. Mit einer Träne oder einem Gedicht war in der Männerwelt da draußen nicht viel zu erreichen. Diese Währung galt nur in der Familie. Und der Wechselkurs bei anderen Männern war ungünstig. Bei meinem Vater genügte ein Tränlein, ein jauliges Gequengel in a-Moll oder ein trauriger Schmollblick – und jedes Fernsehverbot war aufgehoben. Sobald unsere Mutter aus dem Haus war und wir mit Papi allein waren, durften wir Nintendo spielen, bis unsere Daumen wund waren. Er war mit uns gleichermaßen inkonsequent wie mit sich selbst. Schwüre von Verzicht widerrief er rasch. Er genehmigte sich Ausnahmen von Ausnahmen, Pausen von Pausen. Nie wieder Pralinen! Nie wieder Käse! Nie wieder Alkohol! Gluck, gluck, gluck. Haps. In Hotels trank er zunächst seine und dann heimlich unsere Minibar leer (zu dumm nur, dass diese täglich wieder aufgefüllt wurde). „Nur noch heute, heute schneit es, heute regnet es, heute tut mir der Zahn weh.“ Es gab immer eine Ausrede, immer einen Grund zur Sünde – und so sind wir, seine Kinder, ebenso genüsslich ungezügelt wie er, wenn es um Speis und Trank, um Lebkuchen und Leben geht. Stets winkte die Piste, die Versuchung, die Sause, die Bar – und sei sie auch noch so klein und winzig wie eine Minibar. Die Aussicht auf Miniadrenalin genügte. Warten auf Godot und warten auf Pernod.

Mein Vater war mir auf einmal nicht mehr peinlich. Ich war mir selbst nicht mehr peinlich. Heute tanze ich gern mit ihm. Er ist nicht mehr so groß wie damals, aber er ist immer noch der Größte.

Mein Vater ist ein Lebemann. Und doch war er immer fleißig, immer getrieben von seinen eigenen Ängsten, seinen Ansprüchen – bis heute träumt er, dass er durchs Abitur fällt. Seine Träume hat er mir vererbt, diese Nichterfüllungsträume vom Verpassen und Versagen, er sieht abfahrende Züge, ich abstürzende Flugzeuge. Er ist ein Zyniker wie Woody Allen, manchmal ist er unfreiwillig komisch – und oft freiwillig lustig. Er liebt Witze und Anekdoten, schwärmt für Komödien von Billy Wilder und Ernst Lubitsch, er sammelt Lexika und schlägt alles darin nach, weil er ein Rechthaber ist, der leider oft Recht hat. Nie sitzt er am Computer. Neulich fragte er mich, als ich am Notebook schrieb „Ist das ein Facebook?“ und deutete auf den Laptop. Er schreibt all seine Texte mit der Hand, mit seinem Lieblingsfüller in lila Tinte, überall fliegen beschmierte Blätter durch die Wohnung, er ist zerzaust und zerstreut, aber nie sprachlos oder ahnungslos.

„Deine Mutter sagt immer: Hellmuth, deine Tochter ist wie du“, erzählte er mir neulich. Dann machte er eine Pause. „Und das meint sie nicht als Kompliment.“ Ich teile die Schusseligkeit mit ihm, die Empfindsamkeit, die Lebenslust, den Lebensdurst, die Rührseligkeit, die Freude am lautstarken Gesang, die Melancholie, die Albträume, eine gewisse Form der Selbstbezogenheit, Eitelkeit aus Unsicherheit. Er war ein Flüchtling und kam früher oft zu kurz. Nun gönnt er sich was. Ich finde, er hat es verdient.

Man kennt seinen Vater manchmal besser als jeder andere – und oft kennt man ihn kaum. Er bleibt stets der Vater, ein Mann, dem man erst spät in seinem Leben begegnet ist, ein Mann, den man nur an der Seite der Mutter kennt, nur im Familienbund. In meinen Augen ist er immer allwissend und stark, auch wenn es ihm heute mehr Mühe bereitet, mir die Koffer zu tragen. Ich habe geheiratet, er ist mich los, ein anderer trägt mir den Koffer. Aber ich bleibe immer sein Kind.

Laura Karasek, 31, ist Rechtsanwältin in Frankfurt und Autorin des Romans „Verspielte Jahre“ (2012)

Glückwunsch des ehemaligen "Spiegel"-Redakteurs Urs Jenny


Mit Bewunderung und einer Spur Neid verfolge ich, lieber Hellmuth, wie du in der Theorie über das Älterwerden lamentierst, es in der Praxis aber als eine Gegebenheit nimmst, die man – so lang es irgend möglich ist – „gar nicht erst ignorieren“ soll. Doch alles hilft nichts, heute wirst du bejubelt. Die Jahre, in denen ich als Kollege und Freund beim „Spiegel“ mit dir zusammengearbeitet habe, waren beruflich die angenehmsten: Man konnte sich Tag für Tag aufeinander verlassen. Und deine viel gerühmte „leichte Hand“? Sie ist etwas Seltenes und Feines. Doch wichtiger für das große Ganze des Lebens, so scheint mir, ist etwas anderes, das dir angeboren sein muss: die Begabung zum Glücklichsein. Möge sie dir treu bleiben!