Der aus Hamburg stammende Jörn Günther handelt mit sehr alten und wertvollen Handschriften. Zu seinen Kunden zählen das Getty-Museum in Los Angeles, arabische Ölscheichs und die Erbin einer großen deutschen Brauerei

Besucht man Jörn Günther, klappt einem vor Staunen das Kinn herunter. Es ist nicht die Lage seines Anwesens in der Zentralschweiz – hoch über einem See mit Blick auf eine Landschaft wie in den „Heidi“-Filmen, inklusive des rauschenden Baches und der ganzjährig schneebedeckten Gipfel.

Es sind die Prachthandschriften auf Pergament, die gerahmt an Günthers Arbeitszimmerwand hängen und gebunden auf seinem Tisch liegen. Es sind die letzten Zeitzeugen längst vergangener Epochen. Die ältesten haben mehr als 1000 Jahre überdauert.

„Diese kunstvoll geschriebenen Wörter über Wissen und Erfahrung, Können und Geist sind die Wurzeln unserer abendländischen Kulturgeschichte“, sagt Günther ganz ohne Pathos in der Stimme. Man schluckt. Es stimmt!

Der 56-jährige gebürtige Hamburger, Kunsthistoriker und Literaturwissenschaftler, zu dessen Kunden neben Reichen und Megareichen auch das Getty Museum in Los Angeles, das Metropolitan Museum in New York, die Bayerische Staatsbibliothek und die British Library gehören, ist Bücherjäger von Beruf. Der vor vier Jahren von Hamburg in die Schweiz umgezogene Antiquar jagt ungewöhnlichen Trophäen hinterher – seltene Handschriften und Bücher aus der Zeit, als der Bücherdruck gerade erfunden wurde. Er spürt sie in vergessenen und abgelegenen Privatsammlungen, Burgen und Schlössern, auf verstaubten Dachböden, in dämmrigen Kloster-Bibliotheken und in Auktionen auf. Bei den Leitmessen in Paris, New York und Maastricht ist er Stamm-Aussteller.

120 Schafe wurden geschlachtet, um genug Haut für das Pergament zu haben

Die an der Wand hängenden Bilder sind Einzelblätter aus Manuskripten des zehnten bis 16. Jahrhunderts. Es sind die unverkäuflichen Lieblingsstücke des zurückhaltenden Hanseaten, den es in die Berge verschlagen hat.

„Im Mittelalter wurden Bibeln und Gebetbücher, Reiseberichte, Jagd- und Medizinbücher, liturgische, literarische und alchemistische Schriften von Künstlern gern mit illuminierten Initialen und Miniaturen geschmückt. Die Buchmalerei steht Tafelbildern an Schönheit und Qualität in nichts nach“, erklärt Günther. Schwärmt er beinahe. Dann deutet er auf den Tisch, auf dem er ein paar weitere Schätze abgelegt hat: eine handschriftliche Bibel von 1240 aus der belgischen Abtei Aulne – vielfarbige, frisch leuchtende Miniaturen, mit Blattgold ausgeführt, 760 Seiten durchgehend auf Pergament geschrieben. „120 Schafe mussten geschlachtet werden, um aus ihrer Haut so viele Pergamentseiten herzustellen“, sagt Günther. „Damals galt schon als wohlhabend, wer nur 30 Schafe besaß. Die Handschriften hatten von Anfang an auch einen enormen materiellen Wert.“

Wer ihm die Bibel von 1240 abkaufen möchte, muss tief in die Tasche greifen. Für so viel Geld könnte er sich auch eine Villa an der Elbchaussee zulegen.

Der Bücherjäger fischt als Nächstes „ein Evangeliar, um 900 entstanden, mit dem Text des Neuen Testaments“, vom Tisch und drückt es einem in die Hand. Die Kostbarkeiten sind nicht nur was für Tresor oder Vitrine. Man darf die wertvollen Bücher anfassen, durchblättern, darin lesen, sagt der Fachmann. Das über 1000 Jahre alte Schriftstück hat er einem Schweizer Sammler mit zäher Energie abgerungen: „Es ist das älteste Buch, das man derzeit auf dem freien Markt kriegen kann.“ Der dickste Schmöker, eine prachtvoll illustrierte Handschrift von 1440 mit der Römischen Geschichte von Titus Livius, deren Seiten aus 100 Kälberhäuten gemacht wurden, hat er aus einer Privatsammlung in Irland – „nach vielen Treffen und Telefonaten“ – gekauft. Auch der Wert dieses Wälzers liegt im siebenstelligen Bereich.

Mit einem Dachbodenfund eines Sylter Ferienhauses begann das Geschäft

Wie er auf sein besonderes Business gekommen ist? „Ich war schon immer ein Bücherwurm. Mit fünf konnte ich lesen. Und das Sammler-Gen hat mir mein Vater vererbt. Der hat alte Bauernhäuser, Kutschen, Schreibmaschinen und all so Sachen gesammelt“, sagt der Antiquar.

Als er 14 war, brachte sein Vater, ein vermögender Hamburger Immobilienkaufmann, plötzlich eine Handschrift aus dem Jahr 1410 mit nach Hause: die Weltchronik des Rudolf von Ems. Er hatte die gotische Schrift einer Erbengemeinschaft für ein paar Hunderttausend Mark abgekauft. Die Glücklichen hatten das Manuskript – in einem Kopfkissenbezug verpackt – auf dem Dachboden eines Sylter Ferienhauses gefunden. Günther senior griff zu. Aber nur weil er hörte, dass auch der legendäre Antiquar Hans Peter Kraus, ein in die USA emigrierter österreichischer Jude, das Buch ebenfalls erwerben wollte. „Vater bot der Erbengemeinschaft einfach ein paar Tausend Mark mehr. Er ahnte, dass die ihr Geld wert waren“, sagt Jörn Günther.

Als er die Chronik mit den 365 Miniaturen zum ersten Mal sah, war das für ihn ein magischer Moment: „Das Buch sog mich förmlich in sich hinein. Das ist genau mein Ding, dachte ich. Damit beschäftige ich mich in meinem Leben.“

Er wollte in seinem Business der Beste werden. Die Großwildjagd begann

Das Pergament fand im Regal seines Kinderzimmers Platz. Er begleitete den Vater fortan in Auktionshäuser, beriet ihn beim Kauf weiterer Schriften. Er schmökerte in Fachliteratur und sog Wissen „wie ein Schwamm“ auf. Er entwickelte sich bereits als Knirps zum Kenner mittelalterlicher Handschriften.

Zwischen Abitur und Studienbeginn machte er ein dreimonatiges Praktikum bei Hans Peter Kraus in New York, dem damaligen König der Antiquare. Der wollte den Sprössling der Familie aus Hamburg, Germany, unbedingt kennenlernen, die ihm die Sylter Chronikhandschrift vor der Nase weggeschnappt hatte. Unter Kraus’ Anleitung lernte Jörn Günther zu katalogisieren und in den Schriften zu blättern, zu fühlen und zu hören, wenn eines der Blätter nicht das originale und das Buch somit weniger wert war.

„Meine Promotion 1990 war mein Jagdschein“, sagt Günther. Er hatte bereits eine beachtliche Handbibliothek angesammelt, verfügte über gute Kontakte und wollte in seinem Business der Beste werden. Er machte sich selbstständig: „Die Großwildjagd begann.“

Sie ging gleich gut los. Einen Hamburger Unternehmer, einen Kölner Urologen und die Erbin einer großen deutschen Brauerei beriet er beim Auf- und Ausbau ihrer Schriftensammlungen. Arabische Scheichs und griechische Reeder, Millionäre und Milliardäre sind neben vielen Bibliotheken und Museen seine Kunden. Er sucht und sichtet, fahndet, forscht und fliegt um die Welt. Um die 200 alte Schriften – Einzelblätter, gebundene Manuskripte und seltene gedruckte Bücher – hat er immer im Angebot. Für Preise zwischen ein paar Tausend und mehreren Millionen Euro. Bestsellerautor Umberto Eco sei ein manischer Sammler, verrät Günther. Und fünf der wertvollsten Privatsammlungen der Welt gehörten Frauen. Für manche Auktion bei Christie’s oder Sotheby’s bekommt der Bücherjäger von seinen Klienten die „Carte Blanche“, sagt er: um die Objekte der Begierde zu ersteigern, die oft von Künstlern wie Jean Colombe und Albrecht Dürer illuminiert oder illustriert worden sind, darf er so viel bieten, wie er will. No Limits.

Die Rudolf-von-Ems-Chronik, mit der vor gut 40 Jahren für Günther alles begann, hat er längst, wie rund 30 weitere Handschriften, an das Getty-Museum gegeben. Eine bessere Referenzadresse gibt es nicht, sagt Günther: „Getty kauft nur das Beste vom Besten.“

Er müsse dauernd für Nachschub sorgen, ständig auf der Lauer liegen und schneller als die Konkurrenz sein, denn die Hälfte seines Bestandes verkaufe er im Laufe eines Jahres, sagt der Bücherjäger am nächsten Tag in seinem „Spezialantiquariat für illuminierte Handschriften, Miniaturen und frühe Drucke des Mittelalters und der Renaissance“ in der Baseler Altstadt. Acht Mitarbeiter gehören zum Geschäft: Bibliothekswissenschaftler, Kunstgeschichtler, Historiker, der Restaurator. Eine Spezialfirma kümmert sich um die Zollabwicklung, ein Fotograf setzt die mit Blattgold veredelten Buchmalereien für die Kataloge ins rechte Licht.

Im Keller liegen etwa 40 sehr alte Bücher. Günther hat sie dem Sohn eines verstorbenen griechischen Reeders abgekauft und bereits wieder verkauft. Wer ist der neue Besitzer? Günther lächelt nur. Diskretion ist gerade in seinem Geschäft eine harte Währung.

Unlängst hat er eine Sammlung von frühen Drucken für mehrere Millionen in die Arabischen Emirate verkauft. An ihrer Zusammenstellung hat er acht Jahre gearbeitet, auf drei Kontinenten die seltenen Schriften entdeckt und erworben. Die einmalige Sammlung besteht aus den „größten denkbaren Trophäen der Reiseliteratur“, sagt Günther, und diesmal schleicht sich ein Hauch von Stolz in die Stimme. „Christoph Kolumbus, Vasco da Gama, Marco Polo, Ferdinand Magellan berichten an Königshäuser, Gönner und Sponsoren von den Geschehnissen auf ihren Entdeckungsreisen. Mich von diesen Schriften zu trennen fiel mir besonders schwer.“

Die Suche nach den pergamentenen Schätzen geht immer weiter. Kürzlich kam Günther bei einer Messe mit einem Franzosen ins Gespräch. Es stellte sich heraus, dass der Franzose wohl eine Chronik aus dem 15. Jahrhundert besitzt, die als verschollen galt. Die zumindest seit 135 Jahren niemand mehr zu Gesicht bekommen hat. Jörn Günther will der Erste sein. Der Bücherjäger hat sofort die Fährte aufgenommen. Jetzt will er den Zwölfender aus Pergament auch erlegen.