An diesem Sonntag feiert der NDR den zehnten Geburtstag des Kieler „Tatorts“. Dann ermittelt Axel Milberg in „Borowski und der Engel“, geschrieben von Sascha Arango.

Damit das Gemeinste gleich zu Beginn geschrieben ist: Es gibt in dieser Republik spannendere Städte als Kiel. Schönere, wildere, anregendere, abgründigere. Richtige Städte, nicht bloß Orte von der Stange. Andererseits, wenn das Böse immer und überall ist und zuschlägt, warum dann nicht auch an der heimeligen Kieler Förde? Man muss das Böse nur suchen und sonntagabendkrimireif polieren können.

In den vergangenen zehn Jahren ist dem NDR dieses Kunststück erstaunlich oft gelungen. Kiel hat sich im „Tatort“-Universum einen soliden vorderen Platz erarbeitet, sogar mit einigen glänzenden Ausreißern nach ganz oben, die zu Klassikern des Genres gezählt werden dürfen: Die leicht irre Abschiedsnummer in Finnland beispielsweise, als am Ende von „Tango für Borowski“ Maren Eggert endgültig weg war aus ihrer Psychologinnen-Rolle und Borowski ohnehin schon kurz vorm Durchdrehen wegen der Mitternachtssonne. Auch „Borowski und die Frau am Fenster“ war einer dieser abgründig erschreckenden Prachtfälle, und erst recht „Borowski und der stille Gast“ im letzten Jahr. Lars Eidinger als Kurierfahrer Kai Korthals. Die Szene mit der angebissenen Brezel? Meine Güte noch mal. Am Ende entkam dieser Mörder ganz knapp seiner gerechten Strafe, ob er nicht vielleicht doch noch einmal zurückkehren darf, um sein Werk zu vollenden, das ist eines der vielen Geheimnisse, mit denen auch Borowski selbst, im wirklichen Leben der Schauspieler Axel Milberg, gern herumgeheimnist, um die Vorfreude am Köcheln zu halten: „Wir haben ihn nicht, das ärgert mich. Ich schließe es nicht aus.“

Für das Erfolgsgeheimnis seiner Rolle und ihrer wortkarg heruntergedimmten Arbeitsmethoden hat Milberg eine sehr schöne, untypisch umständliche Erklärung parat, die das Phänomen Kiel in Beziehung zu einem anderen „Tatort“-Favoriten bringt. Wenn Münster also, mit seiner putzigen Kombination aus Kommissar und Gerichtsmediziner, der leicht bekloppte Onkel aus der westfälischen Provinz ist, dann ist Kiel mit dem muffeligen Ermittler und der jüngeren Frau an seiner Seite? „Der weit gereiste, düstere Cousin, der in der Ecke des Zimmers steht und den man später beim Familienfest am Tisch sitzen sieht, mit ihm ins Gespräch kommt und nicht mehr aufhören kann ihm zuzuhören, und weit nach Mitternacht freut man sich, dass man ihn angesprochen hat, weil er unglaubliche Dinge erzählen kann.“ Und das alles, obwohl Milberg fast im gleichen langen Atemzug berichtet, noch keinen Münster-„Tatort“ gesehen zu haben.

Nun also, zur Feier des Tages, nicht nur ein weiterer Fördekrimi mit Kieler Marotten, sondern „Borowski und der Engel“. Eine Maßarbeit aus der normalerweise rasiermesserscharfen Feder von Sascha Arango, dem Kieler Stammautor, die allerdings hier und da Klamaukfalten wirft, anstatt den Hauptcharakteren wie angegossen zu passen. Es münstert stellenweise. „Es ist jedes Mal wie ein Geschenk“, findet Milberg, „das zaubert er irgendwo her.“ „Ich mag seinen Schreibstil“, urteilt Milbergs noch fast neuer Sidekick Sibel Kekilli über ihre Rolle als Sarah Brandt und Arango: „Er sieht grundsätzlich das Böse im Menschen, das kann er dann gut beschreiben.“ Zu sehen ist in diesem 90-Minüter ein Märchen im Zerrspiegel, mit vielen klassischen Zutaten.

Es gibt den Märchenprinzen, der früh und auf sehr fantastische Art dran glauben mus, Requisiten dafür sind unter anderem eine Katze und ein Blumengeschäft. Andere, Arango ist offenbar in Mordslaune gewesen beim Schreiben, werden ähnlich skurril abserviert, und selbst für Stammstatisten im Kieler Gesetzeshüter-Ensemble spendiert Arango noch launige Szenen mit spontaner Körperverletzung.

Borowski staunt, und Brandt wundert sich, bis das Finale alles ins Lot bringt

Zentrum und Hingucker der Geschichte jedoch ist ein einsames Aschenputtel, das im Hauptberuf Altenpflegerin ist und von Lavinia Wilson hinreißend in Szene gesetzt wird. Weil der Prinz nun mal verstirbt, ist für das Mädchen aus einfachen Verhältnissen der Weg frei ins Kieler Märchenschloss, wo Opa und Oma König (Victoria Trauttmannsdorf und Horst Janson als Bankiersehepaar) schon das Gästezimmer frei räumen lassen für ihre adoptierte Cinderella. Doch die geht leider buchstäblich über Leichen und simuliert die lieblich lächelnde Herzensgüte nur. Borowski staunt über all das sehr gekonnt, und Brandt wundert sich, bis das Finale die Dinge wieder amtlich ins Lot bringt, weil ja Sonntagabend ist und man beim „Tatort“.

Zu schade, dass ein Wunsch Milbergs für seinen Borowski nicht mehr erfüllt werden kann. Ein „Tatort“, der seinen Namen ernst nimmt und einzig und allein am Tatort spielt, inszeniert von Christoph Schlingensief. Mit ihm hatte Milberg über diese Idee gesprochen, doch Schlingensief war schon viel zu krank. Solch ein Kammerspiel ohne Kompromisse und Schlenker, das wär’s gewesen. Dann würde man Kiel tatsächlich nicht mehr wiedererkennen.

„Tatort: Borowski und der Engel“ 29.12. 20.15, ARD