Regisseur Abdellatif Kechiche über seinen Film „Blau ist eine warme Farbe“, Sexszenen und den Vorwurf, er lasse seine Darsteller unter extremen Arbeitsbedingungen leiden.

Die Geschichte einer großen lesbischen Liebe erzählt Regisseur Abdellatif Kechiche in seinem dreistündigen Epos „Blau ist eine warme Farbe“, das bei den Festspielen in Cannes mit der Goldenen Palme ausgezeichnet wurde. Für Kontroversen sorgten die ausgedehnten, wiewohl sehr einfühlsam gefilmten Sexszenen zwischen den beiden Hauptdarstellerinnen.

Hamburger Abendblatt: In Ihrem Film versucht die erfahrene Emma (Léa Seydoux), der jungen Adèle (Adèle Exarchopoulos) die Freiheit in der Liebe vorzuleben. Sehen Sie Ihren Film als eine Art Schule der Gefühle?
Abdellatif Kechiche: Emma kommt aus einem bürgerlichen Milieu und intellektualisiert viel, Adèle dagegen lebt ihren Wunsch, eine freie Frau zu sein, wirklich aus. Aus Liebe nähert sie sich einer ihr fremden Welt an: Sie interessiert sich für Emma, bewundert sie, dient ihr, aber fühlt sich letztlich ausgeschlossen.

Muss die leidenschaftliche Beziehung zwischen Emma und Adèle in Ihrem Film scheitern, weil die beiden Mädchen aus ganz unterschiedlichen Schichten kommen?
Kechiche: Der Film erzählt, dass die Gründe für ihre Trennung in den gesellschaftlichen Unterschieden liegen. Mit diesem Thema beschäftige ich mich bereits seit meinem ersten Film, „La Faute à Voltaire“. Lange war ich mir nicht ganz sicher, aber inzwischen ist daraus eine Feststellung geworden. Und ich frage inzwischen eher nach den Details dieses Umstands.

In Ihren Filmen spielen die Mahlzeiten eine große Rolle. Die Art, wie Emma und Adèle Spaghetti oder Austern essen, sagt viel über ihre unterschiedliche Herkunft aus.
Kechiche: Ich habe mir vor allem ästhetische Fragen gestellt und wollte die Nudeln und die Textur der Austern so gut wie möglich filmen.

Wollten Sie mit den langen Sexszenen die sonst üblichen Grenzen des im Kino Zeigbaren verschieben?
Kechiche: Das war nicht mein erklärtes Ziel, sondern ich bin da viel naiver. Ich finde es schön, anzuschauen, wenn sich zwei Menschen lieben, wenn sie essen oder bewegt sind. Ich war mir nicht klar darüber, dass man so viel über diese Szenen reden würde, dass sie so zentral sein würden. Man sagt mir oft, dass die Liebeszenen oder die Mahlzeiten in meinen Filmen zu lange dauern. Aber es wäre falsch gewesen, sie zu kürzen.

Zwingen Sie den Zuschauer dazu, sich als Voyeur zu fühlen?
Kechiche: Mir ist wichtig, dass der Zuschauer reagiert und am Geschehen teilnimmt. In diesem Film ist es beinahe unmöglich, in der Rolle des distanzierten Beobachters zu verharren. Ich will den Zuschauer nicht in eine unangenehme Lage bringen, aber ihn aus seiner Reserve locken. Der Film ist kein Angebot zur Entspannung.

Sie haben Ihre Karriere in den 80er-Jahren als Schauspieler begonnen. Wie hat sich diese Erfahrung auf Ihre Arbeitsweise als Regisseur ausgewirkt?
Kechiche: Meine Erfahrung sammelte ich vor allem im Theater, wo man jeden Abend seine Rolle neu erfinden muss. Aber da ich im Kino als Schauspieler oft an meine Grenzen stieß, fragte ich mich, wie man diese Schwierigkeiten überwinden kann. Ich wurde Regisseur und habe versucht, meine Arbeitsweise im Theater an das Kino anzupassen. Ich tendiere daher dazu, eine Szene mit den Schauspielern oft zu wiederholen – auf der Suche nach einem „echten Moment“.

Sie gelten als Perfektionist, der alle beim Film üblichen Arbeitszeiten sprengt und seine Mitarbeiter strapaziert. Warum drehen Sie so viele Einstellungen derselben Szene?
Kechiche: Jede Einstellung ist anders. Ich muss die Szene nicht unbedingt 100-mal wiederholen, um die beste Einstellung zu finden. Oft wollen auch die Schauspieler, dass ich viel drehe. Und es ist ja auch kein Geheimnis, dass neben dem Schauspieler auch Kamera, Licht und Ton stimmen müssen, damit die Szene gelingt und schließlich „im Kasten“ ist. Natürlich ist und bleibt der Schauspieler der wichtigste Teil. Ich rede viel mit meinen Darstellern und filme dabei oft ohne Unterbrechung, anders als es sonst beim Film üblich ist.

Nach dem Triumph von „Blau ist eine warme Farbe“ in Cannes kritisierten Ihre beiden Hauptdarstellerinnen Léa Seydoux und Adèle Exarchopoulos die harten Dreharbeiten und Arbeitsbedingungen als schmerzhafte Grenzerfahrung. Hat diese Aussage der beiden Sie dazu, veranlasst, Ihre Arbeitsmethoden infrage zu stellen?
Kechiche: Diese verlogene Polemik beruht nicht auf Tatsachen. Sie hat für mich persönlich keine Bedeutung, aber sie schadet dem Film. Bei den Dreharbeiten zu meinen Filmen muss niemand leiden. Und wenn, dann können sie ja gehen! Wer zu mir kommt, will eine glückliche Arbeitserfahrung machen. Bestimmte Menschen kommen jedoch mit ihren persönlichen Schmerzen zu den Dreharbeiten, aber es schmerzt nicht, einen Film zu machen oder als Schauspieler vor der Kamera zu stehen.

Sollen Ihre Schauspieler sich bei den Dreharbeiten so lange und intensiv verausgaben, bis sie etwas von sich preisgeben?
Kechiche: Wenn man eine Figur spielt, die leidet, die einen Liebeskummer und eine Trennung durchmacht, dann simuliert man nichts. Das muss man ganz tief in seinem Innern finden. Wir reden hier von Schauspielern und nicht von Starlets! Diejenigen, die dies ablehnen, leiden unter ihren eigenen Blockaden. Man muss sehr vorsichtig mit dem großen Wort „Leiden“ umgehen. Filme zu machen ist ein Glück, und diejenigen, die es nicht so sehen, schließen sich selber aus.

Haben Sie die Goldene Palme als gerechten Lohn für Ihre Unnachgiebigkeit als Regisseur gesehen?
Kechiche: Es war eine schöne Etappe, aber die Vollendung steht noch aus. Wenn man eines Tages ein Meisterwerk dreht, fühlt man sich wie ein perfekter Mensch. Aber bisher sehe ich – Gott sei Dank – noch eine Menge Fehler. Ich will mich weiterentwickeln. Die Goldene Palme war ein kurzer Moment. des Glücks.

Hatten Sie insgeheim gehofft oder sogar damit gerechnet, beim Festival in Cannes zu gewinnen?
Kechiche: In meinem tiefsten Innern schon. Alle meine Filme hätten eine Palme verdient. (lacht)

„Blau ist eine warme Farbe“ 180 Minuten, ab 16 Jahren, ab 19.12. im Abaton, Holi, Zeise; eine Kritik lesen Sie am Donnerstag in Hamburg LIVE