Lloyd Riggins, Erster Solist am Hamburg Ballett, ist am Sonntag im „Weihnachtsoratorium“ zu erleben. 2019 soll er seinen Chef beerben

Hamburg. Ein Tänzer, der 45 Minuten lang in einer Vorstellung mehr oder weniger bewegungslos verharrt, bevor er endlich das tun darf, was für ihn Berufung ist – eine Zumutung für den Mann. Lloyd Riggins, Erster Solist und Ballettmeister im Hamburg Ballett, sieht das ganz und gar nicht so. Denn diese körperliche Untätigkeit gehe einher mit meditativer Konzentration, erklärt er. Er muss uns also nicht leid tun.

In John Neumeiers Choreografie auf Johann Sebastian Bachs „Weihnachtsoratorium“, die am Sonntag in der Staatsoper erstmals in ihrer Gesamtheit gezeigt wird, war Riggins bereits 2007 in der Premiere der ersten drei Teile in der Rolle des still beobachtenden Mannes zu erleben. Selbst wenn Neumeier jetzt die Teile eins bis drei moderat umgestaltet hat, um sie mit der neu choreografierten, ebenfalls dreiteiligen zweiten Hälfte des Oratoriums zu einem Ganzen zusammenzufügen, bleibt die von Reflexion getragene Eröffnung mit Riggins erhalten.

Dieser Jedermann, „ein Mann“ genannt, denkt, frierend bei seinem Weihnachtsbäumchen kauernd, als einsamer Außenseiter über die Weihnachtsgeschichte nach. Assoziationen und Parallelen zu seinem Leben und dem der Heiligen Familie drängen sich ihm auf. Doch plötzlich fällt dieser Unbehauste in einen Tanztaumel als Ausdruck unbändiger Freude.

Diese Explosion des Tanzes, ursprünglich die letzte Nummer im ersten Teil des Oratoriums, hat Neumeier dort gekürzt, setzt sie aber in voller Länge ganz an den Schluss des geistlichen Werks. Eine enorme Herausforderung für Riggins, mit 44 Jahren für einen Tänzer nicht mehr jung. Was ist ihm lieber, die Ruhe oder der tänzerische Sturm?

Riggins überlegt nicht lange. Als junger Tänzer sei es ihm schwergefallen, nicht zu tanzen. Aber jetzt, im Alter, fiele es ihm sehr viel leichter: „Ich habe eine größere Konzentrationsfähigkeit, ich kann mit Stille umgehen und sie gut aushalten.“

Neumeier ist praktizierender Katholik. Seine Choreografien geistlicher Werke sind von seinem Glauben durchdrungen, selbst wenn er über das „Weihnachtsoratorium“ sagt: „Ich will mit meiner Choreografie keinen sakralen Tanz schaffen, sondern theatrale Bewegungen generieren, die einer inspirierten, uns noch heute berührenden Musik entsprungen sind. Wir bringen Bachs Musik in einen Theaterraum, der kulturell und religiös unterschiedlich geprägte Menschen vereint.“ Wie aber hält es der Tänzer Riggins mit der Religion? Ist er ein gläubiger Mensch? „Ja“, sagt Riggins, „ich glaube an Gott, aber ich gehöre keiner Religionsgemeinschaft an.“

Als Kind ist der gebürtige New Yorker oft in der Episkopalkirche gewesen, „aber nur, um meinen Vater, einen Opernsänger, zu hören.“ Er habe seine eigene Form des Glaubens entwickelt. Die helfe ihm bei der Interpretation seiner Rollen in der „Matthäuspassion“ oder im „Messias“, in denen es nie explizit um Glauben gehe, sondern um Emotionen, um Leben und Tod.

„Wenn man einen ganz starken Glauben an das hat, was man tut und ein starkes Vertrauen in John und seine Arbeit, dann lernt man die Lektion von Einfachheit, Bescheidenheit und Dankbarkeit“, sinniert Riggins. Die Lektion, dass ein Tänzerleben kurz ist, inbegriffen. „Vergiss das nicht“, ermahne ihn immer wieder seine Frau Niurka Moredo, die ehemalige Solistin in Neumeiers Compagnie und jetzige Ballettmeisterin. „Du musst dich der Realität stellen, du kannst ihr nicht ausweichen.“

Moredo, gebürtig aus Costa Rica, ist von deutlich resoluterer Entschlusskraft als ihr Mann. Sie wird wahnsinnig, wenn er Entscheidungen auf die lange Bank schiebt. Doch, ringt er sich durch, er könne sich vorstellen, nicht mehr zu tanzen – immerhin ist er seit 1995 in der Compagnie von Neumeier. Er habe so viele Rollen als Geschenk empfunden, dass er nur noch den Wunsch habe, seine Kunst weiterzubringen. Angesichts derart abgeklärter Weltentsagung packen einen Zweifel, ob Riggins, dieser Philanthrop, der von 2015 an offiziell Neumeiers Stellvertreter sein und möglicherweise von 2019 an Nachfolger des dann 80 Jahre alten Ballettchefs werden wird (letztlich entscheidet die Stadt über diesen Posten) auch die im Ballett unverzichtbare Härte zeigen kann. Und ob er so laut werden kann wie Neumeier, wenn es um die Durchsetzung seiner Belange geht. „Ja“, sagt Riggins entschieden. „Der Tänzerberuf ist wahnsinnig hart, da erreichst du nichts mit Liebe und Güte. Du musst streng gegenüber dir selbst und den anderen sein.“

Das wäre also geklärt – und auch, dass Lloyd Riggins in den vier Übergangsjahren die deutsche Sprache erlernen will. Das hat er sich vorgenommen. Seine siebenjährige Tochter Vianne hat bereits mit dem Unterricht begonnen. In der Familie, zu der noch der vierjährige Oliver gehört, wird neben Englisch und Spanisch nur wenig Deutsch gesprochen.

Konkretes mag Riggins noch nicht über seine Pläne als möglicher künftiger, nicht choreografierender Ballettchef sagen. Nur das eine: „Ich würde mich eher als Gärtner verstehen, der seine Pflanzen hegt und kultiviert. Denn mit John Neumeiers Stiftung, die kein Museum, sondern eine lebendige Institution sein soll, haben wir einen Schatz, den es zu pflegen und zu erweitern gilt. Die Tradition und eine organisch gewachsene Kontinuität bleiben durch einen harmonischen Übergang erhalten, ohne dass wir uns dem Neuen verschlössen.“

„Weihnachtsoratorium I–VI“ Premiere So 8.12., 18 Uhr, weitere Vorführungen: 10./11./14./15./26.12, 1.1. Staatsoper Hamburg, Karten: T. 35 68 68