Stefan Weiller kehrt mit Melodien und Geschichten von Menschen aus dem Hospiz in die Petrikirche zurück

Hauptkirche St. Petri. Er ist der Spezialist fürs Ungemütliche. Seit einigen Jahren trifft sich Stefan Weiller immer wieder mit Menschen, die am Rande sind – der Gesellschaft, ihrer gewohnten Lebensumstände, ihrer Lebenszeit. Nicht von Berufs wegen; eher, weil es ihn ruft. Der freundliche Mann mit dem kurzen Strubbelhaar hört diesen Menschen weniger aus purer Barmherzigkeit zu. Er will etwas von ihnen. Ihre Geschichten bilden die Grundlage für sehr besondere musikalisch-textliche Abende, die Weiller konzipiert. Er selbst nennt sie Kunstprojekte.

Im November vergangenen Jahres war seine unorthodox instrumentierte „Winterreise“ von Franz Schubert mit den Texten Wilhelm Müllers und Zwischentexten von Wohnungslosen in der übervollen Hauptkirche St. Petri zu erleben. Am heutigen Mittwoch, dem Buß- und Bettag, bringt Weiller sein neues Programm „... und die Welt steht still: Letzte Lieder und Geschichten von Menschen aus dem Hospiz“ als Benefiz-Veranstaltung für Hamburg Leuchtfeuer zur Aufführung, ebenfalls in der Petrikirche. „Freunde sagen, es sei mein bislang fröhlichstes Projekt“, berichtet Weiller, der sich eigene Vorurteile eingestehen musste, als ein journalistischer Auftrag ihn zu seinem ersten Gang in ein Hospiz führte. „Doch da wehte nicht der befürchtete Schleier des Todes“, erinnert er sich. „Es war dort licht und freundlich, die Tür zum Zimmer der Frau, die ich besuchen sollte, stand offen. Und aus ihrem Raum klang ein Schlager.“

Weiller sprach mit der Hospiz-Bewohnerin auch über Musik, über die Bedeutung einzelner Lieder auf ihrer Lebensreise. Und ahnte dabei, dass nicht nur in ihr, sondern in vielen Menschen innerlich das abgelegt sein könnte, was der Schauspieler und Sänger Jan Josef Liefers zum Titel seiner Lebenserinnerungen machte, der „Soundtrack meines Lebens“. So kam Weiller auf den Gedanken, auch andere auf ihrer letzten Station in diesem Erdenleben zu ihrem Verhältnis zur Musik zu befragen. Über einen Aushang am Schwarzen Brett bot er sich als Gesprächspartner an. Wer reden wollte, musste ihn einladen.

Natürlich kam bei seinen Begegnungen mit Sterbenden auch die Musik zur Sprache, die auf ihrer Beerdigung gespielt werden sollte. Aber darum ging es Weiller nicht – höchstens dann, wenn klar war, dass die Familie auf dem Friedhof eine vermeintlich pietätvollere Musik auswählen würde als der oder die Verstorbene selbst. So berichtet er von einer Sterbenden, die sich nach guter, alter Beerdigungstradition aus New Orleans eigentlich eine Second-Line-Band wünschte. Weil die Verwandtschaft damit überfordert war, will er ihr bei einer Aufführung von „...und die Welt steht still“ in Bayern im kommenden Jahr ihren Wunsch erfüllen. Posthum.

Der Abend bietet eine Montage aus höchst heterogener Musik – von „Zwei kleine Italiener“ über „Lili Marleen“, Opernarien und Barock-Klänge bis zu Songs aus Rock, Pop und Musical ist sehr vieles dabei – und Fragmenten aus den Begegnungen mit den anonym bleibenden Bewohnern, die Weiller aus der Erinnerung aufschrieb und verdichtete. Als Cantus firmus, der dem Programm musikalisch Halt gibt, dient die „Passacaglia della vita“ eines barocken Kleinmeisters, die Weiller nachts bei einer Autofahrt im NDR hörte und sofort als musikalisches Leitmotiv für sein Vorhaben erkannte. Die Lieder ließ Weiller von einem mittlerweile entstandenen ganzen „Netzwerk guter Freunde“ arrangieren. Claus Bantzer und sein Harvestehuder Kammerchor singen einige davon, außerdem wirken eine ganze Reihe von Solosängern sowie Instrumentalisten an Harfe, Klavier und Violinen mit. Sogar ein kleines Kaffeehausorchester spielt.

Als „zentrale Erzählstimme“ hatte Weiller früh die Schauspielerin Hansi Jochmann im Sinn, auch wegen ihres Vermögens, „zwischen Zerbrechlichkeit und extremer Stärke“ zu changieren. Denn Sterbende erwarten nicht ausnahmslos als Häuflein Elend ihr letztes Stündlein; viele im Hospiz erlebte Weiller als unerwartet stark. „Die wollen nicht aufgefangen werden“, sagt er. „Die fangen eher selber auf.“

„... und die Welt hält still: Letzte Lieder und Geschichten von Menschen aus dem Hospiz“, 20.11, 20.00, Hauptkirche St. Petri (U Rathaus), Bei der Petrikirche 2, Eintritt frei, Spenden für Hamburg Leuchtfeuer erbeten