Schon am ersten Abend seines fünfteiligen Projekts fesselte das Jerusalem Quartet sein Publikum im kleinen Saal der Laeiszhalle

Hamburg. Das Komponistendasein zur Sowjetzeit war für Dmitri Schostakowitsch eine heikle Gratwanderung. Einerseits sollte er gefälligst staatstragende Jubelware abliefern, wie sie Stalin von jedem Genossen Künstler verlangte, andererseits wollte er seine eigenen Ideen und Zweifel aber nicht komplett verleugnen. Deshalb wählte er den intimen Rahmen des Streichquartetts, um persönliche Botschaften in die Musik einzuschmuggeln.

Die zu entschlüsseln gelingt derzeit kaum einer Formation so überzeugend wie dem Jerusalem Quartet. Schon am ersten Abend seines fünfteiligen Schostakowitsch-Zyklus im kleinen Saal der Laeiszhalle fesselte das Ensemble mit dichten Interpretationen – und entlarvte dabei das doppelte Spiel des Komponisten. So beginnt etwa sein drittes Quartett mit einem scheinbar sorglosen Allegretto. Die erste Geige trällert eine unbekümmerte Melodie, ganz nach dem offiziellen Propagandageschmack. Doch indem der Cellist Kyril Zlotnikov die Begleittöne eine Spur zu dumpf in die Saiten hobelte, enthüllte er die stumpfe Banalität des Themas. Das Heile-Welt-Gesicht der Musik ist bloß eine Maske. Sie verbirgt eine bitterböse Ironie, die sich jedoch erst dem zweiten Blick erschließt. Der Komponist hat sein ästhetisches Plansoll erfüllt und trotzdem die Wahrheit gesagt.

Die Mitglieder des Jerusalem Quartets, drei davon gebürtige Weißrussen, sind schon lange mit diesen Brüchen und versteckten Hinweisen von Schostakowitsch vertraut. Sie haben den genetischen Code seiner Musik im Blut und nutzen ihr breites Klangspektrum, um die bisweilen ziemlich schaurige Szenerie auszumalen: Der Walzer des zweiten Quartetts – im Kriegsjahr 1944 entstanden – wurde bei ihnen zum gespenstischen Totentanz; im Finale ratterte das Cello auf der leeren C-Saite wie ein Maschinengewehr.

Auch im dritten Quartett hat die Begegnung mit dem Grauen des Zweiten Weltkriegs unüberhörbar ihre Spuren hinterlassen. Als die vier Streicher im Moderato mit den Bogenspitzen ein knochiges Staccato klopften, ließen sie vor dem inneren Auge ein Skelettballett im Gleichschritt vorbeiziehen: Eine gruselige Parodie auf dem Marsch der Soldaten ins Verderben. Kurz darauf tauchten sie den Beginn des Adagiosatzes in tiefschwarze Unisonofarben. Staatstreuer Optimismus klingt anders.

Trotz einer breiten Palette an Ausdrucksnuancen bewahrt das Jerusalem Quartet immer einen Rest an klanglicher Noblesse. Und gerade das ist auch der einzige Vorwurf, den man dem Spitzenensemble machen kann: Dass manche Momente – wie etwa die ruppigen Akkordschläge im Allegro des dritten Quartetts – noch schonungsloser, noch brutaler gemeißelt sein könnten. Denn Schostakowitsch sprengt die Grenzen des traditionellen Schönheitsbegriffs ganz bewusst.

Nur im kurzen ersten Quartett, von ihm selbst als „frühlingshaft“ bezeichnet, ist die freundliche Stimmung tatsächlich für bare Münze zu nehmen. Aber die war nach der Reise durch die Abgründe des zweiten und dritten Quartetts längst verflogen.

Ein starker, mitunter beklemmend intensiver Auftakt des Schostakowitsch-Projekts. Obwohl das Publikum seine Interpreten am Ende minutenlang feierte, ließen diese sich nicht mehr erweichen. Aus gutem Grund. Schließlich sind ihre Zugaben auf die Programme der kommenden vier Konzerte verteilt.

Schostakowitsch-Projekt des Jerusalem Quartets, weitere Termine am 7.12., 16.1., 27.2. und 22.4. Karten unter T. 35766666 oder online unter tickets@elbphilharmonie.de