Mehr als nur Mordsvergnügen: Immer wieder sonntags bringt der „Tatort“ sein Publikum auf die Spur zu sich selbst. Die Kulturgeschichte eines TV-Phänomens

Hinterlässt ein Film beim Zuschauer ein zwiespältiges Gefühl, sollte man sich — das rät der Regisseur François Truffaut — als Erstes fragen: Was wäre der Film, wenn er kein Film wäre? Eine Gerichtsverhandlung? Eine Zirkusvorstellung? Eine Partynacht auf Speed? Der „Tatort“ wäre ein Leistungskurs in Gesellschaftswissenschaft. Mit Krimi-Subtext. Seit mehr als 40 Jahren fungiert der „Tatort“ als Selbstvergewisserungsmaschine, die uns sagt, wer wir sind, welches Auto wir fahren, wie unsere Einbauküchen aussehen und wo es politisch hakt. Er ist nicht nur die langlebigste Sendung unter den Krimiserien, er besitzt auch den stärksten Authentizitätsanspruch. „Dieser Fall ist wahr!“ war einst vor jeder Folge der ersten ARD-Krimiserie „Stahlnetz“ zu lesen. Der Anspruch, Realistisches darzustellen, ein „Spiegel der Gesellschaft“ zu sein, wie es immer so schön heißt, prägt den „Tatort“ bis heute, er ist Teil seines Erfolgsprinzips, das immer neue Mannschaftskollegen auf den Bildschirm pustet, immer mehr Regionen des Landes zum „Tatort“-Gebiet erklärt.

Längst beschäftigen sich deutschlandweit Medienwissenschaftler mit der Krimireihe; im Oktober fand die erste internationale (!) „Tatort“-Tagung in Göttingen statt. „Tatort — Gesellschaftspolitische Themen in der Krimireihe“ (UVK Verlagsgesellschaft) heißt die Dissertation des Kulturwissenschaftlers Hendrik Buhl, die den Aktualitätsbezug (manche sagen: -zwang) des Sonntagskrimis untersucht. Ob Arbeitsbedingungen von Ökobauern, Pflegekraftnotstand oder krumme Geschäfte mit der Reproduktionsmedizin, der Sonntagskrimi offeriere den Zuschauern eine „besondere Form der unterhaltsamen Aufklärung“, schreibt Buhl. Apropos Zuschauer: Eine Studie des Allensbacher Institut für Demoskopie ergab, dass die Sendung von „knapp drei Viertel der Bevölkerung zumindest hin und wieder gesehen wird“.

Auch wer den „Tatort“ nicht für den oft zitierten „wahren deutschen Gesellschaftsroman“ hält, wird anerkennen müssen, dass seine Einzigartigkeit darin liegt, Werte, Phänomene und Missstände unserer Zeit offenzulegen. Nervenzerfetzende Spannung? Kann jeder amerikanische Terroristenthriller besser. Große Bilderkunst? Findet sich eher im Programmkino um die Ecke als sonntags auf dem Fernsehbildschirm. Einblicke in forensische Details? Geben die Kollegen der verschiedenen „CSI“-Bezirke mit deutlich mehr Wumm. Auf allen Kanälen wird erschossen, ertränkt, erwürgt. Mord ist das abendliche Unterhaltungsmotiv Nummer eins. Das öffentlich-rechtliche Heiligtum, geboren 1970, taugt allein deshalb als das große Gedächtnis der Gesellschaft, weil es die Reihe so lange und kontinuierlich gibt. Weil ihm die unterschiedlichsten Kreativen ihren Stempel aufgedrückt haben. Nachhaltiger als der „Tatort“ hat kein Fernsehprodukt dem deutschen Durchschnittstoten ein Gesicht gegeben.

Der „Tatort“ ist nicht visionär, er ist gesellschaftsabbildend

Der Fernsehkrimi sei schon immer eine „moralische Instanz“ gewesen, in der die Werteverschiebungen der Gesellschaft sichtbar werden, sagt die Medienwissenschaftlerin Joan K. Bleicher von der Uni Hamburg: „Der ‚Tatort‘ hat schon immer Themen gesetzt für die öffentliche Diskussion. Seit ein paar Jahren verstärkt sich die Aufmerksamkeit dadurch, dass die ‚Tatort‘-Themen anschließend bei Günther Jauch diskutiert werden.“ Mitarbeiterüberwachung, Gammelfleischskandal — „Tatort“-Themen sind oft gesellschaftliche Aufreger, die sich im Film ebenso gut machen wie auf Talkshowsofas. Dabei steht der moralische Standpunkt beim einen wie dem anderen oft von vornherein fest. „Was zustimmungsfähig und -pflichtig ist, findet sich im ‚Tatort‘ definiert und seltener kontrovers diskutiert“, schreibt Kulturwissenschaftler Buhl. Einerseits zementiert der Krimi Grundsätze, Werte, Normen, was ihm den Vorwurf der „Konsensmaschine“ eingetragen hat. Auf der anderen Seite sensibilisiert er die Öffentlichkeit für Hartz-IV-Armut, Ausbeuterlöhne, Verwahrlosung im Alter. Themen, die aus filmischer Sicht wenig sexy sein mögen, die aber deutlich machen, woran eine Gesellschaft krankt. „Der ‚Tatort‘ schafft eigene Themenkonjunkturen, lässt Themen kurz aufblitzen. Neue Themen generiert er nicht“, lautet Buhls Fazit. Dieses Hinterherhinken im Schatten der aktuellen Lage ist teils dem zeitlich trägen Medium Film geschuldet ist, andererseits passt es zur DNA der Serie: Der „Tatort“ ist nicht visionär, er ist gesellschaftsabbildend.

Nun geht es im Film ja immer auch darum, ein Thema nicht nur aufzugreifen, sondern es erlebbar zu machen. Hier kommen die Kommissare ins Spiel, die forschen Ermittlerinnen und die Beamten am Rande des Nervenzusammenbruchs. „Gesellschaftspolitische Themen im ,Tatort‘ sind notwendigerweise immer personalisiert“, schreibt Buhl dazu und meint: Die vielen beschädigten Protagonisten im „Tatort“ — vom traumatisierten Dortmunder Kommissar über den Ex-Alkoholiker Ballauf aus Köln — sind auch eine Reaktion auf die Zeichen unserer Zeit, die immer mehr Erschöpfungsdepressive hervorbringt, immer mehr Menschen, die das Familienglück verfehlen.

Auch das neue „Tatort“-Team aus Erfurt, das jüngste der Geschichte, das am Sonntag erstmals auf Sendung geht, ist ein Trio seelisch Versehrter. Alleinerziehender Vater, Amoklaufüberlebender, Einzelgängerin mit Wissensfimmel. „Kalter Engel“ erzählt von Prostitution im Studentenmilieu, die so normal scheint wie ein Babysitterjob, und dem Handel mit rezeptpflichtigen Stimulanzien. Ein Fall, der auf eine junge Generation blickt, die gelernt hat, die Ärmel hochzukrempeln. Wer erfahren will, wie es um die Mentalität des Nachwuchses bestellt ist, zumindest eines kleines Teils, der sollte am Sonntag mal wieder „Tatort“ gucken.