Die „Kommune der Wahrheit. Wirklichkeitsmaschine“ versetzt das Thalia Theater in den Ausnahmezustand

Hamburg. Das Thalia Theater ist im Ausnahmezustand, der Zuschauerraum versperrt. In allen Foyers und Gängen und auf der Bühne hinterm geschlossenen eisernen Vorhang lauern stattdessen Module der „Wirklichkeitsmaschine“, audiovisuell aufgeladen, in Blaulicht getaucht und in Gang gehalten von hoch motivierten Thalia-Kommunarden. An jeder Ecke niedliche, in Alu verpackte Spielzeuge. Knetmasse lädt zum Abbilden und anschließenden Umkneten der Realität nach eigenen Wunschvorstellungen ein. Modernes Kindergarten-Voodoo. Die Schauspieler halten den Nachrichtenstrom per Trimmrad in Gang, sitzen unter der Nachrichtendusche und meckern von mobilen Klein-Bühnen. Der Musikzug Halstenbek e. V. läuft durchs Bild, „Ja, mir san mit’m Radl da“. Eindrücke, Texte, Lieder („Ach, Assad, Du großer Diktator“) prasseln auf die Besucher ein. Wie Syrien-Krise, Wahlduell und Van-der-Vaart-Seifenoper-Overkill zusammen.

Das Theater hinterfragt – in der Regel über zeitlose Texte – die Zustände der Wirklichkeit. Auf den Spuren Bertolt Brechts sucht der Hamburger Theaterregisseur Nicolas Stemann in seiner theatralen Aktion „Kommune der Wahrheit. Wirklichkeitsmaschine“ radikal neue Wege des Erkenntnisfortschritts. Nach der Uraufführung bei den Wiener Festwochen feierte die „Kommune der Wahrheit. Wirklichkeitsmaschine“ jetzt am Thalia Theater Premiere ihres nur viertägigen Bestehens.

Der Mehrheit dämmert natürlich schon länger, dass die Nachrichtenflut für den modernen Menschen eine einzige Überforderung darstellt. Von ihrem immer schwerer verifizierbaren Wirklichkeitsgehalt ganz zu schweigen. Wer das in der Kunst verhandeln will, wird damit zwangsläufig ebenfalls überfordern. Viel Gehirnschmalz ist in diese gigantische Installation eingeflossen, aber die Vielfalt simultaner Schauplätze vom „Speicher-Raum“ bis zum „Transformator-Raum“ bleibt unübersichtlich. In der knappen Stunde Begehungszeit wird eine Tiefenbohrung für den Besucher kaum möglich.

Dabei gibt es originelle Module, wie die Videoinstallation „I to I“, in der sich zwei Kameras gegenseitig abfilmen und ständiges Sehen und Gesehenwerden thematisieren. Und es gibt charmante Aktionen, in denen die Kommune zum Nachrichten-Happening wird. Etwa wenn Franziska Hartmann die Jane Fonda des Polit-Aerobic gibt und mit „Proteste in Mexiko!“, „Steinbrück!“, „Hochwasser!“ im Glitzereinteiler zur Transformation in Bewegungsenergie animiert. Oder wenn sich in einem Nebenraum der Garderobe 20 Besucher auf zwei Quadratmeter im Trance-Formations-Raum drängeln, während Jörg Pohl mit Nerd-Brille Fußballergebnisse brüllt.

Mit den Mitteln der Parodie, manchmal plakativ, manchmal ein wenig naiv, werden hier Wahrheiten durchgespielt, das hat vor allem Unterhaltungswert. Eher heiße Luft dringt dagegen aus dem zum Theorieraum umfunktionierten Teeraum des Hauses, in dem Thalia-Dramaturg Carl Hegemann die Ideen diverser medial zugeschalteter Intellektueller von Navid Kermani bis Friedrich von Borries in die Maschine einspeisen will, aber in einem Netz ungeordneter Denkfragmente hängen bleibt.

Die letzte halbe Stunde dürfen die Besucher dann doch noch in den Saal und erfahren, wie die vielen schönen, manchmal auch eher schlichten, installativen Einzelideen noch einmal aufgebrochen werden in einem theatralen Showfinale. Die Kommunarden werden wie Zeitzeugen in TV-Formaten eingespielt und berichten von seltsamen Geschehnissen und Zusammenstößen mit „Tieren“. Die Tier gewordenen Nachrichten, eine Art Fernsehballett in schwarz-rot-goldenem Paillettendress mit Fuchsmaskerade, kriechen dann auch gefräßig auf die Kommunarden zu, die sich in utopische Lüfte erheben.

Ob nun die Wirklichkeitsmaschine nach all diesen Transformationsprozessen positive Energie auf die Realität zurückwirft, bleibt vorläufig ein Gedankenexperiment. Eine Fortsetzung ist angekündigt. Es bleibt zu begrüßen, dass Regisseur Nicolas Stemann Theater nicht nur als bürgerliche Erbauungstankstelle, sondern als Denkort begreift und das Theater ihm zu diesem Experiment den Raum überlässt. Zu spüren war jedenfalls etwas.

„Kommune der Wahrheit. Wirklichkeitsmaschine“ bis 17.9., jew. 19.01, Thalia Theater, Alstertor, Karten T. 32 81 44 44; www.thalia-theater.de