Beim Tonali-Wettbewerb traten zehn Nachwuchsmusiker an. Sie alle hofften auf den Sieg und einen Karrieresprung

Hamburg. Igor Levit, einer der aufsteigenden Sterne am Pianistenhimmel und zum ersten Mal in seinem Leben als Juror bei einem Wettbewerb aktiv, nennt den Tonali Grand Prix ein „absurd geniales Konstrukt“. Sein prägnantes Lob gilt einem Wettspiel unter kaum der Pubertät entwachsenen Interpreten, die ungeachtet ihrer Jugend schon eine verblüffende künstlerische Reife erlangt haben. In der vergangenen Woche fand Tonali zum dritten Mal in Hamburg statt. Seine Initiatoren, die Hamburger Cellisten Amadeus Templeton und Boris Matchin, sprechen inzwischen lieber von einem Kulturprojekt. Tatsächlich lässt sich ihr Tonali-Baby kaum mit einem normalen Klassikwettbewerb vergleichen.

Wie groß die Unterschiede sind, zeigt sich in vielen Details. Nachdem am Donnerstag die letzte Vorrunde im Miralles Saal der Jugendmusikschule am Mittelweg absolviert war und die zehn Kandidaten voller Spannung darauf warteten, welche drei von ihnen die Jury – fünf Pianisten, eine Künstleragentin und ein Dirigent – nun ins Finale schicken würde, gab es erst mal eine Fotosession mit allen Beteiligten. Während das Preisgericht noch tagte, hatten sich die Pianisten schon vom Fotografen auf einer hohen Leiter und einer Holztruhe fürs Gruppenfoto arrangieren lassen. Nun kamen die Juroren dazu. Noch ein Gruppenfoto, dazu von jedem Kandidaten ein Smile-Bild mit drei Smile-Juroren. So viel Zeit muss sein, auch wenn in ein paar Minuten nur noch drei der zehn aus vollem Herzen lächeln werden.

„Es gibt nur einen Gewinner, aber keine Verlierer“, lautet Templetons Tonali-Mantra. Er weiß, wie sehr auch die Feingeister der klassischen Musik auf die Nutzung ihrer Ellbogen trainiert sind und wie weh ein Ausscheiden bei solchen Konkurrenzaktionen tun kann. Frei nach Winston Churchill: Wettbewerbe sind die schlechteste Methode, musikalische Qualität zu ermitteln. Es gibt nur leider keine bessere.

„Keine Ahnung, wie meine Chancen fürs Finale stehen“, sagt die 18-jährige Pianistin Elisabeth Brauß am zweiten Tonali-Tag. „Mein Problem ist, dass ich es allen gönne.“ Ihr Kampfgeist richtet sich augenscheinlich nicht gegen ihre neun fabelhaften Rivalen am Flügel, die seit einem Tonali-Workshop an der Universität Witten alle ihre Facebook-Freunde sind.

In der Vorbereitungszeit hatten sich die Kandidaten sogar ganz solidarisch bei Facebook über die Tücken und Besonderheiten des Pflichtstücks „Azorianische Etüden“ von Daniel Smutny ausgetauscht. Smutny hatte damit den Kompositionswettbewerb gewonnen, den Tonali für jeden Wettbewerb ausschreibt.

Nein, der Kampfgeist von Elisabeth Brauß gilt wie der ihrer Konkurrenten in erster Linie dem geliebten, heiligen Monstrum mit den schwarzen und weißen Tasten, dessentwegen sie seit einem Jahr jeden Werktagmorgen um acht Uhr früh in die Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover geht, um den Tag schon mal mit drei Stunden ungestörten Klavierübens zu beginnen. Sie hat sich eine Wohnung direkt an der Hochschule genommen, „um näher an der Musik zu sein“, wie sie sagt. Bis zum Abend werden viele weitere Übestunden folgen. Jeden Tag. Am Wochenende wird im Wohnzimmer des Elternhauses am Rand der Stadt weiter geübt. So rigoros muss sein junges Pianistenleben wohl führen, wer nicht als Klavierlehrer oder Korrepetitor enden will. Der Markt für Klaviersolisten ist winzig, viel kleiner noch als der für die Top-Spieler von Orchesterinstrumenten.

Gerade hat Elisabeth die zweite Hürde des Wettbewerbs hinter sich gebracht, ein „experimentelles und moderiertes Konzertprogramm“. 20 Minuten reden und spielen. Im Saal verteilt sitzen ein paar Zuhörer. Vor ihr, in einem Halbkreis, die Fachjury, ein Gastjuror von „Jugend musiziert“ und 22 Schülerjuroren von elf Hamburger Schulen. Die dürfen den zweiten Teil des Wettbewerbs eigenständig bewerten: Wer hat uns die Musik am besten vermittelt?

„Das Moderieren, das mache ich nicht jeden Tag“, sagt Elisabeth hinterher. Sie ist die Älteste von vier Geschwistern, beide Eltern Musiker. „Aber ich habe mich drauf gefreut, nach dem Motto: Alles kann passieren.“ Weil sie beim Pflichtprogramm „Beethoven und Musik nach 2000“ am Tag darauf Lera Auerbachs Stück „Ludwigs Albtraum“ spielen würde, sprach sie in ihrer Präsentation über Träume und Albträume und über das Verhältnis zeitgenössischer Komponisten zum Schaffen ihrer Vorgänger. Und sie stellte die steile These auf, dass nur, wer von seinen Zeitgenossen nicht verstanden wird, das Zeug zum Klassiker von morgen hat.

Auch deshalb gibt es diesen Wettbewerb, weil beunruhigend ungewiss ist, ob es so etwas morgen noch geben wird: Klassiker, ja, klassische Musik überhaupt. Denn die alten Zuhörer sterben so nach und nach weg, es wachsen kaum neue nach. Klar, auch bei Tonali geht es ums Siegertreppchen, um viel Geld (10.000 Euro), um Anschlussförderung, um die vielleicht entscheidende Düngergabe in den zarten Boden eines Karrierepflänzchens. Vor allem aber geht es um die Zukunft der klassischen Musik selbst, um unser kulturelles Tafelsilber. Deshalb sollen bei Tonali aus Konkurrenten – auch – Komplizen werden.

Mit der Pflicht zur Moderation verlangt der Wettbewerb von den Teilnehmern etwas, das Pianisten vor 20 Jahren noch entrüstet abgelehnt hätten, wie Mit-Jurorin Ragna Schirmer weiß. Doch so aufschlussreich und zeitgemäß sie die Runde fand: für ihr Urteil und das ihrer Kollegen zählte das Spiel der Kandidaten, nicht das gesprochene Wort.

Beim großen Finale am Sonnabend in der Laeiszhalle kürte die Jury Elisabeth Brauß als Siegerin. Sie gewann den Tonali Grand Prix und den Publikumspreis, der per SMS-Voting ermittelt wird. Auch ein Klavier, das man stumm schalten kann, bekommt sie geschenkt. Das passt. Sie träumte schon lange davon, sich so eins zu kaufen.