Das Programm für Kleine wird dominiert von schrillem Zeichentrick. Für behutsam erzählte Geschichten ist im Kinderkino aber auch heute noch Raum.

Hamburg. Lili Hartwig leitet seit 2012 das Kinderfilmfest Michel. In dieser Aufgabe schaut sie rund 100 Kinderfilme jährlich — und weiß genau, was Kinder am liebsten sehen wollen.

Abendblatt: Wer den Kinderkanal einschaltet, kann gar nicht so schnell gucken, wie Zeichentrickfiguren durchs Bild sausen. Ziemlich anstrengend.
Lili Hartwig: Fernsehen ist ein Unruhestifter. Die Aufmerksamkeitsschwelle von Kindern ist bei dem Medium so niedrig, weil sie permanent zugeballert werden mit grellen Bildern, schnellen Schnitten und Geräuschen. Das ist dem vorauseilenden Gehorsam von Fernsehmachern geschuldet, die möglichst viel Bewegung pro Minute in die Bilder pressen wollen. Dabei können sich Kinder auch auf sehr ruhiges Tempo einlassen. Wenn die Geschichte stimmt, kann sie noch so behutsam erzählt sein.

Warum ist der schrille Zeichentrickfilm dann so übermächtig im Fernsehen?
Hartwig: Dass Kinder Zeichentrick mögen ist ja keine Überraschung. Aber sie würden wahrscheinlich auch einem Experimentalfilm etwas abgewinnen. Womit man Kinder immer fesseln kann, sind Spannungselemente, sie gruseln sich wahnsinnig gern. Slapstickszenen, kommen auch gut an. Zeichentrickfiguren finden eher die Filmindustrie und die Eltern so niedlich. Aber gleich welches Genres – entscheidend ist, dass man über das Gesehene spricht.

Man redet, um es zu verarbeiten.
Hartwig: Einige Kinder reden noch drei Tage später über einen Film. Was nicht bedeutet, dass man ihnen zu viel zugemutet hat. Wenn ein Kind überfordert ist von einem Film, merkt es das am besten selbst. Beim Michel haben wir für Kinder, die nicht im Kinosaal bleiben wollen, am Ausgang eine Bastelstation aufgebaut. Wenn das Kind sich unwohl fühlt, muss man das ernst nehmen, statt zu sagen: „Ist doch nicht so schlimm.“

Der typische Elternsatz zur Beruhigung?
Hartwig: Bei meinem ersten Kinofilm musste sich ein Hund am Ende entscheiden, ob er sein Leben für ein kleines Mädchen opfert. Die Frage, für wen man sein Leben geben würde, war für mich als Fünfjährige einfach zu groß. „Ist doch nur ein Film“, hat mein Vater gesagt. Ich halte ihm das heute noch manchmal vor: „Das war der blödeste Kommentar, den du bringen konntest. Meine Gefühle waren echt!“

Harter Stoff für ein fünfjähriges Kind.
Hartwig: Viele Filme muten Kindern bewusst einiges zu. Es gibt die Theorie von einer „Schule des Sehens“, derzufolge Kinder beim Gucken etwas lernen sollen. Das klassische Beispiel ist Bambi und der Tod der Mutter. Es mag platt klingen, aber wenn das Kind einmal im wirklichen Leben mit einem Todesfall konfrontiert wird, ist es in gewisser Weise vorbereitet. Es hat diese Erfahrung gewissermaßen schon durchlebt. Und es weiß, dass es irgendwo eine Lösung gibt für sein Problem.

Es ist schon auffällig, wie viel Tod und Krankheit es in Kinderfilmen gibt.
Hartwig: Meine Kollegen vom Kinderkurzfilmfestival haben eine „Kill-List“, auf der sie verschiedene Todesarten der Eltern aufführen. Da findet sich von Selbstmord über Autounfall und Krebs wirklich alles. In unserem Programm gibt es dieses Jahr eine depressive Mutter, alkoholkranke und tote Elternteile. Kinderklassiker wie „Bullerbü“ und „Pippi Langstrumpf“ funktionieren zwar immer noch bestens. Aber die heile Welt, in der Kinder losziehen und sich ihre Abenteuer selber suchen, existiert in neueren Filmen so nicht mehr. Die Welt ist meistens schon kaputt. Und das Kind muss tapfer sein und sich irgendwie durchschlagen.

Einige teilweise verstörende Filme sind von der FSK ohne Altersbeschränkung freigegeben. Wie kann das sein?
Hartwig: Die FSK vergibt keine Altersempfehlung, sie empfiehlt sich als reines Schutzgremium. Die FSK guckt, wie viel Blut, Gewalt und Sex es gibt, unabhängig von der Handlung. Ein Film ohne Altersbeschränkung ist deshalb nicht gleich empfohlen für zweijährige Kinder; um das zu überprüfen sollten Eltern im Internet recherchieren.

Wann beginnt man mit Kinderfilmen?
Hartwig: Die meisten Eltern fangen heute schon früh mit lustigen Clips auf YouTube an. Es kann also durchaus sein, dass schon Dreijährige so „medienerfahren“ sind, dass sie einen längeren Film verarbeiten können. Beim Michel machen wir eine Einführungsveranstaltung für Vierjährige, wo wir neben den Filmen versuchen, das Kino als Ort zu erklären. Das Licht geht an und wieder aus, der Vorhang öffnet sich ein paar Mal, der Vorführer winkt aus der Vorführkabine. Das dunkle Kino als Ort ist ja auf den ersten Blick furchteinflößend für Kinder. Der Fernseher zu Hause ist heiterer, bunter. Aber ständig fliegen Werbebanner ins Bild, die sagen: „Schick uns eine SMS!“ oder: „Das passiert gerade bei Facebook!“ Mag sein, dass Kommunikation heutzutage so funktioniert. Aber der ideale Ort, um zu lernen, sich auf eine komplexe Geschichte zu konzentrieren, ist nach wie vor ein dunkler, ruhiger Kinosaal.