Der ARD-Dauerserie droht wegen Zuschauermangels und zu hoher Kosten das Aus – aber noch ist Zeit, sich dagegen zu wehren. Ein kleiner Leitfaden, dann retten wir gemeinsam die „Lindenstraße“.

Ich bin einer von drei Millionen. Das ist zu viel für eine ordentliche Selbsthilfegruppe („Ich heiße Jörn und gucke die ‚Lindenstraße‘“), es sind aber auch zu wenige, um sich überhaupt nicht erklären zu müssen. Wir sind jetzt bei Folge 1442 angekommen, ich behaupte reinen Gewissens, 1300 davon gesehen zu haben. Es ist keine Sucht, ich könnte auch anders. Vielleicht. Aber was, bitte, ist an einem Sonntagabend um 18.50 Uhr noch los auf dieser Welt? Ich weiß es nicht mehr, bei Folge 1 war ich 13 Jahre alt und Klausi Beimer sechs. Ich möchte übrigens nicht, dass Sie mir schreiben, wie sinnvoll der mittlere Sonntagabend ohne die „Lindenstraße“ wäre, Buch lesen und so. Ich möchte, dass von sofort an alle die „Lindenstraße“ ansehen, denn sie ist in ihrer Existenz bedroht. Die „Bild“ berichtet nämlich, dass der WDR den Vertrag mit der Produktionsfirma des legendären Hans W. Geißendörfer, der mit der Strickmütze, nur noch um ein Jahr verlängern möchte und nicht mehr, wie sonst üblich, um drei Jahre. 185.000 Euro soll die Produktion einer Folge kosten. Zu viel für den großen Sender, dessen Chef jetzt der in Hamburg so geschätzte Tom Buhrow ist? Folgen Sie doch einfach diesem kleinen Leitfaden in zehn Punkten, dann retten wir gemeinsam die „Lindenstraße“.

1. Gucken Sie die Folgen 1437 bis 1442 mit einem geduldigen „Lindenstraßen“-Trainer. Er erklärt Ihnen, warum Hans Beimer (geschieden von Mutter Beimer, gescheiterter Jugendhilfe-Gutmensch und auch sonst ein Verlierer) derzeit von Anna Ziegler (von Ex-Ehemann entführt, für Hans mit einem Ex-Chef ins Bett gegangen, saß schon im Gefängnis) getrennt ist, weil Hans ein gemeinsames zur Adoption freigegebenes Kind zurückgeholt hat. Warum Vasily Sarikakis (Betreiber des Lokals Akropolis, der ebenselbes verkaufen möchte, weil sich kürzlich Gäste dort mit Ehec infizierten und starben) ständig traurig blickt. Und warum sich Dr. Dressler (Arzt im Rollstuhl, Finanzier eigentlich sämtlicher in Not geratener Seelen) plötzlich politisch engagiert für so eine Art AfD-Kopie. Natürlich wissen Kenner immer noch mehr, aber die Anspielungen auf die äußerst komplizierten Verstrickungen der vergangenen 20 Jahre werden von den Drehbuchschreibern künstlich klein gehalten.

2. Gucken Sie die Folgen danach allein. Es gibt einfach Sendungen, die Einsamkeit verlangen, diese 30 Minuten am Sonntag gehören definitiv dazu. Alles andere und alle anderen lenken ab oder lassen eine peinliche Stille entstehen. Was Sie hier sehen, ist unkommunizierbar.

3. Lernen Sie die ARD lieben. Ein Senderverbund ohne jede Selbstironie, stets bemüht, die Fackel der Aufklärung in jede dunkle Ecke unserer Gesellschaft zu halten. Wir hatten: ganz viele Dealer, ganz viele Abhängige, aber auch Vergewaltigung in der Ehe, die Mülltrennung, Atom-Ausstieg, Abtreibungen, Vatermord, Bahnhofsstricher, Zwangs- und Gelegenheitsprostituierte, die Mafia, Kindesmissbrauch, Heiratsschwindler, Beischlafdiebe und andere Betrüger en masse und ganz, ganz viele Altnazis, Neonazis, Aussteiger-Nazis, Sekten. Die „Lindenstraße“ ist der Soundtrack der ARD.

4. Rechnen Sie auf keinen Fall damit, lachen zu müssen. Die „Lindenstraße“ ist nicht lustig, sie nimmt sich sehr ernst, sie ist sehr ernst. In den Köpfen der Drehbuchautoren leben Böll, Brecht und Hesse noch, sie können es nur einfach nicht so schön aufschreiben. Im „Weltspiegel“ gibt es deutlich mehr zu lachen.

5. Hinterfragen Sie nichts. Blenden Sie folgende Fragen gleich aus: Wie können all diese Schicksale in einer einzigen Wohnstraße passieren? Warum zieht trotzdem niemand einfach weg? Warum gehen immer alle zu jedem Anlass ins Akropolis (noch jedenfalls) essen? Warum hat niemand je Besuch von Menschen, die nicht in der „Lindenstraße“ wohnen? Es gibt darauf keine Antworten, und es wird nie welche geben.

6. Lernen Sie zuzuhören. Nicht, weil die Sätze schwierig oder gar klug wären. Sondern weil unentwegt gequatscht wird, wie in einem tschechisch-französischen Dialogfilm von 1985. Im Grunde wird in der „Lindenstraße“ bestenfalls in jeder zehnten Folge ein Problem durch einen klugen Gedanken oder ein treffendes Argument gelöst. Aber alles Reden, und da widerlegen sich die gesellschaftskritisch ambitionierten Drehbuchautoren gern selbst, hilft am Ende nichts: Ohne den großen Schluss-Aplomb, ohne die dramatische Eskalation ist eine Problemlösung schlechterdings unmöglich.

7. Seien Sie nicht gespannt, wie sich die dramatische Schlussszene fortsetzen wird. Das wäre für die „Lindenstraße“ eine Spur zu einfach: Jede Folge schildert einen Donnerstag im Leben. Und da es selbst in der „Lindenstraße“ auch noch Montage, Dienstage, Mittwoche gibt, bricht die Erregung zwischenzeitlich zusammen. Der Zuschauer mag die Anbahnung der Schlacht, aber nicht die Schlacht selbst.

8. Regen Sie sich nicht über schlechte Schauspielerleistungen auf, denn die Leistungen sind nicht schlecht. Gut, kaum einer der Darsteller hat es (außer Til Schweiger) jemals in ein RTL-Movie der Güteklasse „Haialarm vor Mallorca“ geschafft, aber das liegt eben auch daran, dass ihre Seriengesichter zu bekannt sind. Sagen zumindest die Schauspieler.

9. Lernen Sie, bestimmte Figuren zu ertragen. Das hilft für das wahre Leben.

10. Reden oder schreiben Sie nicht öffentlich positiv über die „Lindenstraße“, es glaubt Ihnen eh keiner. Und fangen Sie nicht an, zu missionieren.