Olivia Vieweg erzählt und zeichnet „Huck Finn“ nach „Die Abenteuer des Huckleberry Finn“ von Mark Twain

Wenn jetzt Sommer wär – so lautet nicht nur der legendäre Songtext von Ingo Pohlmann, sondern auch der wahrscheinlich meistgeseufzte Seufzer Hamburgs. Aber halt: Es ist Sommer! Immer noch! Und erst recht in Olivia Viewegs Graphic Novel „Huck Finn“, einer ganz und gar heutigen Adaption von Mark Twains Roman „Die Abenteuer des Huckleberry Finn“ von 1884. Viel mehr als kurze Hosen brauchen Viewegs Protagonisten nicht zu tragen, und die Rottöne, in denen die Zeichnungen durchgängig gehalten sind (die hat Vieweg mit Ines Korth abgemischt), beschwören jene verführerische Wärme, die noch spätabends von den Steinen zurückstrahlt wie ein Versprechen.

Das Bändchen richtet sich an Leser aller Altersgruppen, aber junge Leser dürfte es besonders ansprechen. Quält sich doch der Held, bei Vieweg heißt er schlicht Finn, mit dem bürgerlichen Leben bei einer älteren Dame, die ihn zur Pflege aufgenommen hatte, mit so lästigen Dingen wie Schulpflicht und regelmäßigen Zeiten.

Wie Vieweg die Handlung von den Südstaaten der USA nach Halle an der Saale im Jahr 2013 transportiert, das hat etwas Spielerisches, das insgesamt erstaunlich gut aufgeht. Gameboy und Flipflops gehören zu dem heutigen Helden wie die Zigarette im Mundwinkel. Bei aller Coolness und noch in den haarsträubendsten Situationen bewahrt er sich, ganz wie sein Vorbild, sein unverdorbenes, warmes Herz und seine Gewitztheit.

So kostet es ihn Überwindung, sich aus der Gefangenschaft bei seinem Vater zu befreien – denn dazu müsste er die Hütte beschädigen, die einst seiner Mutter gehörte. Als er nach seinem Ausbruch fast unter ein Auto gerät, trauert er nach dem ersten Schrecken erst einmal um die überfahrene Katze. Und schüttelt wenig später die Plastiktüte mit dem Kadaver über seinem Bett aus, um mit dem Katzenblut den Vater auf eine falsche Fährte zu locken.

Vieweg schwingt nicht die Politkeule. Das Ostdeutschland, in dem sie die Geschichte ansiedelt, ist die Heimat der Autorin, nicht mehr und nicht weniger. Statt des entlaufenen Sklaven Jim trifft Finn die junge Asiatin Jin. Sie ist aus dem Bordell „Mississippi“ entflohen; expliziter muss Vieweg nicht werden, um die Parallele zum modernen Menschenhandel zu ziehen.

Vieweg teilt einen Seitenhieb auf den Supermarkt der Lebensphilosophien aus

Nicht alle Übertragungen zünden. In der Familie, die Finn und Jin aufnimmt, wird sich zwar zwischen Biomüsli und Yogaübungen mancher wiedererkennen, ein wunderbarer Seitenhieb auf den postmodernen Supermarkt der Lebensphilosophien. Doch warum diese Krügers mit den Schäfers in einer todbringenden Familienfehde verbunden sind, diesen Hass macht die Autorin nicht hinreichend plausibel.

Vielfach hat sich Vieweg kluge Selbstbeschränkung auferlegt. Sie verzichtet darauf, die Dialekte des Originals auf Krampf nachzuahmen. Und den bestechend komischen moralischen Eintopf, den Twains Huck aus den widersprüchlichen Predigten der Erwachsenen anrührt, kann sie nur andeuten. Stattdessen macht sie sich die Eigenheiten ihres Genres zunutze. Wenige Striche reichen der Manga-erprobten Zeichnerin aus, um Gefühle anzudeuten oder den Alkoholismus im Gesicht von Finns gewalttätigem Vater. Ihre Bilder beschränken sich auf das Wesentliche – weshalb umgekehrt jedes Detail etwas zu sagen hat. Man muss mit Finn resigniert auf die Hallenser Plattenbauten geblickt haben, um seine Sehnsucht nach seinem früheren Vagabundenleben ermessen zu können. Dafür hält Vieweg schon einmal mit dem Erzählen inne und verwendet eine Doppelseite auf die Schönheit der Natur, der auch eine Shampooflasche im Fluss und Windräder am Horizont nichts anhaben können.

Es wäre vermessen, einem Stück Weltliteratur wie „Huckleberry Finn“, das so sehr von seiner raffinierten Sprache lebt, mit einem Comic beikommen zu wollen. Vieweg will aber offenkundig etwas anderes. Wie mutig sie Finns Weg in die Freiheit auf seine Aktualität befragt und dafür ihrem ganz eigenen, vom Sehen geprägten Rhythmus folgt, das macht den Reiz dieses Buchs aus.

„Huck Finn“, Olivia Vieweg, Suhrkamp, 140 S., 19,99; für alle Altersgruppen ab 9 Jahren