Beim überdrehten Singspiel-Abend „Familienbande“ an den Hamburger Kammerspielen ist Therapie zwecklos

Hamburg. Gar keine Frage: Karten für diesen Abend an den Hamburger Kammerspielen sind das bestmögliche Geschenk zu Opas 80. oder zur goldenen Hochzeit der energieraubenden Schwiegereltern – schon wegen der günstigen Vergleichsprognose. So absolut herausfordernd wie in Lutz Hübners und Franz Wittenbrinks Liederabend „Familienbande“ jedenfalls, so herausfordernd kann jede auch noch so missglückte Feier kaum werden. Schon nach den ersten Minuten der Inszenierung Franz-Joseph Diekens wird deutlich: Familientherapie komplett zwecklos. Bei der miteinander aufs Herzlichste verfeindeten Verwandtschaft, die sich im düster getäfelten Landgasthof zu Opas Geburtstag versammelt hat, geht’s – immer stimmstark übrigens – um alte Wunden und neue Schulden, um Mamas verkorksten Liebling und Mobbing unter Cousinen.

Mit Aretha Franklins „Think“ setzt Katharina Abt, blond gelockt, als überforderte und in Leopardenprint verpackte Schwiegertochter des Jubilars, direkt zum Auftakt die stimmlichen Maßstäbe. Aufwärmen ist für Warmduscher, scheinen sich die Macher gedacht zu haben, so derart knallig und überdreht geht der Abend bereits los. Als Zuschauer stellt man sich da kurz die bange Frage, wo das bloß alles hinführen soll – bis man sich dem Sippenwahn, der auch in Bayreuth kaum durchgeknallter daherkommt, schon bald ergibt. Und dem rundum gut besetzten Ensemble bis zur völligen Entkräftung beim bösen Schlagabtausch nach Noten zuschaut – mit steigendem Amüsement.

Obwohl die schlichte Bühne (Ausstattung: Sabine Kohlstedt, Yvonne Marcour) den Schauspielern nicht viele offensichtliche Spielangebote macht und so manches An-der-Rampe-Stehen zur Folge hat, machen die Beteiligten im Laufe der gut konsumierbaren anderthalb Stunden das Beste daraus. Mit Aloe Blaccs Superhit „Dollar“ positioniert sich Tim Grobe – früher am Schauspielhaus, mittlerweile Stammgast an den Kammerspielen – als Idealbesetzung für das Genre „Wittenbrink-Abend“. Er kann nahezu jede Stilrichtung singen und füllt seine Rolle als gescheiterter Finanzmacker (arrogant, aber pleite) aufs Allerfeinste aus. Grobe legt, das muss man so klar sagen, obwohl das Ensemble insgesamt auf hohem Niveau agiert, scheinbar mühelos die stärksten Auftritte des Abends hin.

Aber auch die Kollegen zeigen (wenn man erst mal durchschaut hat, wer nun eigentlich wie mit wem verschwägert ist) gekonnt Familie am Rande des Nervenzusammenbruchs. Zwischen den Gesangspassagen schraubt sich das Gekeife bisweilen, vor allem bei den beteiligten Damen, in Frequenzlagen, die man sonst so nur von Hundepfeifen gewohnt ist. Auch die Kostüme könnten auf jeder Bad-Taste-Party mühelos Preise abräumen. Ohne Scheu vor Albernheit und Peinlichkeit geben alle dem Affen so richtig Zucker. Schlicht daneben sind dabei allerdings, bei allem Verständnis fürs Aufgekratzte, die unnötig homophoben Schwulenwitze.

Caroline Kiesewetter überzeugt in einer Doppelrolle als strenge Großmama und deren yogasüchtige Tochter Johanna, Katharina Abt als Johannas Schampus süffelnde Schwägerin Sabine. Einen Nachwuchs-Zickenkrieg liefern sich die (jede auf ihre Art) missratenen Teeniebräute Polly (ganz in Pink: Anne Wiese) und Nele (tolle Stimme: Alice Wittmer), Ben Knop muss sich als rappender Cousin gegen die Übermacht der Mädels behaupten, und Julian Sengelmann hat als Junge mit der Gitarre (der zum Beispiel Tim Bendzkos Hit „Nur noch kurz die Welt retten“ schmachtet) klare Mädchenschwarm-Qualitäten. Einen schönen (und schön ruhigen) Moment pubertärer Nöte bescheren die Gören mit dem Wir-Sind-Helden-Refrain „Von hier an blind“. Und einen tollen Kontrapunkt zu den etwas inflationären Popowacklern der übrigen Damen setzt Jasmin Wagner: (Ex-)Blümchen als Mauerblümchen. Glaubhaft und rührend ungelenk ist vor allem ihre verunglückte Cheerleader-Performance, was schon deshalb lustig ist, weil Wagners eigener Lebensweg ja tatsächlich über die Station „Cheerleader bei den Blue Devils“ führte.

Pianist Fabian Schubert sitzt derweil stoisch im ersten Stock und begleitet mit wechselnd schauderhaften Perücken das endgültige Entgleisen. Selten sah man beim Schlussapplaus ein so konsequent derangiertes Ensemble.

Familienbande bis 18.8., Hamburger Kammerspiele, Hartungstr. 9-11, Kartentel. 41334400