Entlang des Wassers soll eine „Kreativachse“ aus Ateliers, Clubs und Bühnen entstehen. Die Kreativen sind schon da. Mathias Lintl will dem Industriewasser ein wenig Leben einhauchen.

Hamburg. Die „Fischrettungsanlage“ sprudelt kleine Luftblasen in den Veringkanal. Mathias Lintl will dem Industriewasser ein wenig Leben einhauchen. „Ob das klappt, muss sich noch zeigen“, sagt der 45-Jährige. Ein Satz, der sich durchaus programmatisch interpretieren lässt. Denn das mit dem Leben-Einhauchen, das versuchen derzeit einige an den Ufern links und rechts des Wilhelmsburger Gewässers. „Kulturkanal“ lautet das Zauberwort, das Bezirksamtsleiter Andy Grote (SPD) jüngst für das Areal ausgegeben hat. Sein Traum: eine Kreativachse aus Ateliers, Proberäumen, Studios, Kino, Bühnen und Clubs entlang des Wassers mit dem Hafen im Westen und dem Wohngebiet im Osten, mit dem Dockville-Kultursommer im Süden und der Honigfabrik im Norden. Ein roter Faden in Blau-Grün sozusagen. Ob diese Idee eine Utopie bleibt oder Wirklichkeit werden kann, darüber diskutieren die Akteure, die (längst) am Wasser wirken, derzeit in einer Mischung aus Amüsement und Einfallsreichtum, (Überlebens-)Eifer und Elbinsel-Stolz.

„Ich möchte gern ein richtig geiles Konzept für die Fläche vorlegen, aber dafür brauche ich zwei, drei Monate Zeit“, sagt Mathias Lintl und schaut zur Soulkitchen-Halle, wo Regisseur Fatih Akin vor fünf Jahren seine Erfolgskomödie filmte. Lintl ist Kultur- und Umweltwissenschaftler, vor allem aber Elbinselvisionär. Den kultgeladenen Drehort verwandelte er in eine kulturelle Spielwiese für jedermann mit Konzerten und Ausstellungen ohne Hochkultur-Schranke. Seit die Stadt das Gebäude Mitte Juni wegen „mangelnder Standsicherheit“ kurzfristig schließen ließ, haben er und sein Team nebenan Stellung bezogen, rund um einen grünen Container. Lintl lässt seinen Blick über das Exilterrain schweifen. Blumentöpfe stehen neben einem selbst gezimmerten Tresen. Eine Fotowand kündet von einem Rave, mit dem Lintl im Viertel für den Kulturkanal geworben hat. Er ist Experte darin, freie Räume nutzbar zu machen und den Obrigen mit gewitztem Protest zu begegnen. „Nö“ steht in roten Lettern auf einem Schild, „So nicht“ auf einem anderen. Geblümte Fahnen wehen am Bauzaun, der sein einstiges Domizil nun umschließt. Lintls Gedanken hingegen kennen kaum Grenzen.

Er kann sich gut vorstellen, erzählt der Kulturaktivist, in der Soulkitchen selbst Ateliers einzurichten, dazu neue Räume für Partys und Auftritte anzubauen. Momentan verhandelt er mit der Sprinkenhof AG, wann sie überhaupt wieder in die Halle dürfen, um diese von Architekten und Statikern prüfen zu lassen. „Das wird ein lustiger Kampf“, sagt er und klingt dabei erstaunlich gelassen. Innerlich jedoch, da brodeln die Ideen. Für das gesamte Gelände wäre ein Mix aus Kultur und Gewerbe denkbar, ein Open-Air-Fundus mit Restmaterial von Internationaler Gartenschau (igs) und Bauausstellung (IBA), zudem ein Park und vor allem ein schön gestalteter Zugang zum Wasser.

In diesem Punkt ist die Honigfabrik bereits weiter. Im Hof direkt am Ufer hinter dem Stadtteil-Kulturzentrum haben ein Dutzend Künstler ihre Ateliers. Und in einer der Schuten am kleinen Kai befindet sich ein Seminarraum der Freien Schule für Gestaltung, wo im ersten Stock des Gebäudes mittlerweile rund 60 Studenten lernen. Eine Etage höher wirkt Maggi Markert in ihrer kleinen feinen Geschichtswerkstatt, in der Akten, archivierte Zeitungen und Schwarz-Weiß-Fotos ihren wohl geordneten Platz haben. Die kleine drahtige Frau mit dem grauen, kurzen Haar ist von pragmatischer, sonniger Ausstrahlung. Die Kultur-, Sozial- und Erinnerungsarbeit im Quartier, das mit seinem hohen Migrationsanteil gerne als problematisch dargestellt wird, hat sie keineswegs aufgezehrt. Angeregt erzählt sie von den Anfängen der Honigfabrik.

„Die Idee, dass Wilhelmsburg Kultur braucht, ist in den 70ern entstanden. Das war eine Jugendbewegung“, erzählt die 59-Jährige, die seit den Pioniertagen dabei ist. „Das war so eine Zeit, in der Kultur in alten Gebäuden in Deutschland aufkam“, erinnert sich Markert. Und fügt hinzu: „Was wir jetzt erleben, ist ein Relaunch dieser Entwicklung.“ Der Charme bestünde darin, alte Bausubstanz zu bespielen. Das sei allerdings schwierig, wenn die Sprinkenhof AG auf Abriss setze.

Sie fragt sich zudem, ob ein Kulturkanal funktioniert, wenn er strategisch von der Stadt geplant wird. Ein positiver Effekt wäre für Markert allerdings, wenn auf diese Weise mehr öffentlicher Raum entstünde, das sei „ein wichtiges urbanes Thema“. Der Zusammenhalt unter den Kulturschaffenden existiere ja bereits. Mathias Lintl etwa schaue jeden zweiten Tag vorbei. Die „Zinnwerker“ habe sie für den Protest mit Archivmaterial versorgt. Und die Zuneigung, sie beruht auf Gegenseitigkeit.

„Nur wegen Frau Markert habe ich mich getraut, meine Magisterarbeit als Buch zu veröffentlichen“, erzählt Kerstin Schaefer. Die 34-Jährige schildert in ihrer kulturanthropologischen Studie das Milieu im Metrobus 13, der quer durch Wilhelmsburg führt. Der Dokumentarfilm, den sie mit ihrer Hirn & Wanst GmbH zur „Wilden 13“ in den Zinnwerken produziert hat (und in dem Mathias Lintl einer der Protagonisten ist), feiert beim diesjährigen Filmfest Premiere. 2011 zog das Team um Schaefer und ihren Partner Marco Antonio Reyes Loredo Am Veringhof 7 ein, um für ZDF Kultur die Gastro-Pop-Show Konspirative Küchen-Konzerte zu produzieren. Mittlerweile sind gut zwei Dutzend Kreative vom Webdesigner bis zur Bildhauerin in den Zinnwerken ansässig. „Unsere Büros könnten wir locker doppelt vermieten“, sagt Schaefer. Arbeits- und Atelierraum ist begehrt in Hamburg. Zumal, wenn ein Türchen vom grün-schattigen Hinterhof direkt zum Wanderweg am Kanal führt.

Eine starke Gemeinschaft ist da gewachsen, die soeben erst abwenden konnte, dass ihr Kleinod vom neuen Opernfundus verdrängt wird. „In Wilhelmsburg wurde mit der IBA und igs lange Jahre ausprobiert, was passiert, wenn die Planungen von oben kommen“, sagt Schaefer. „Jetzt besteht die Chance, den Fokus mehr auf die Akteure vor Ort zu legen.“ Und an Enthusiasten, die im Kleinen Großes bewegen, die dem Leben am Kanal mit ihren Projekten reichlich Seele verleihen, besteht kein Mangel. Da wäre zum Beispiel Chrystal Smith.

Die Argentinierin kam vor zwei Jahren nach Hamburg. Ihre Nachbarschaft erschließt sich die Englischlehrerin, indem sie gärtnert, im Interkulturellen Garten am Kanal Höhe Veringstraße 147. Vom bayerischen Biotechnologen bis zur türkischen Hausfrau betreiben auf dem üppig bewachsenen Flecken täglich 30 bis 40 Wilhelmsburger gelebtes Multikulti. Der Jahresbeitrag für diesen bunten Verein kostet in etwa so viel wie eine Tageskarte für die Internationale Gartenschau. Letztlich wünschen sich alle von der Stadt keinen Masterplan, sondern vor allem Toleranz in puncto Freiräumen.

Diesen Wunsch hegt auch Lorenz Hartwig, der mit großer Ausdauer Freiflächen bespielt. Der 24-Jährige, der Germanistik und Philosophie studiert, zog vor vier Jahren auf die Elbinsel. Damals sei die Szene noch überschaubar gewesen. „Jetzt wird das Viertel für junge Menschen promotet“, sagt er und zeigt auf das Treiben im Sanitaspark, in dem Hipstercliquen neben Migrantenfamilien picknicken. Hartwig begann damals im Südbalkon, ab und an Partys zu veranstalten. In dem Raum für Vernissagen, Lesungen und Konzerte musste das Programm wegen einer Mieterhöhung jedoch beendet werden. Es folgten Aktionen wie die DVD-Releaseparty zu „Soul Kitchen“, selbstredend am Drehort, sowie DJ-Abende in der Tonne, einem Mix aus Club, Bar und Bistro schräg gegenüber der Honigfabrik. Am liebsten beteiligt Hartwig sich jedoch an Kultur unter freiem Himmel am Kanal, bei dem verschiedene Kleinstteams aus dem Viertel „vom Generatorhinstellen bis zum Mülleinsammeln“ mitmachen. Um die Anwohner nicht zu stören, dauerten diese musikalischen Get-Together meist vom Nachmittag bis maximal 22 Uhr, doch nicht immer habe die Hamburg Port Authority die spontane Nutzung geduldet, erzählt Hartwig.

Er hofft, dass mit dem Kulturkanal ein Klima geschaffen wird, das alternative Veranstaltungen fördert. „Es wäre schön, wenn das Potenzial vor Ort genutzt wird, statt Leute extra per Ausschreibung anzulocken“, sagt er mit Blick auf ein eingerüstetes Gebäude am Veringhof, in das ab Oktober die von der IBA ins Leben gerufene KünstlerCommunity einziehen soll.

Trotz der diversen Ausrichtungen steht eines jedenfalls fest: Die Kulturszene am Veringkanal ist, im Gegensatz zu so manchem Fisch darin, quicklebendig. Weitere Sauerstoffzufuhr kann aber gewiss nicht schaden.