Die US-Schriftstellerin Edith Wharton hat ein Lebensgefühl beschrieben, das uns auch heute sehr vertraut ist: Die Jagd nach dem Glück

„Edith Wharton war ihr Leben lang fest entschlossen, in einer glanzvollen Welt zu leben. Auch wenn sie sie selbst erschaffen musste“, hat der amerikanische Schriftsteller Louis Auchincloss über eine der geistreichsten Autorinnen des 20. Jahrhunderts geschrieben, eine ungewöhnlich moderne, vielseitige und hoch begabte Frau.

Wharton, die im vergangenen Jahr ihren 150. Geburtstag hätte feiern können, war in die New Yorker Upperclass hineingeboren, deren gesellschaftliche Zwänge sie zu ihrem Lebensthema machte. Mit viel Witz und scharfsinnigem Blick erschuf sie subtile Porträts von Figuren, denen Konventionen die Fesseln angelegt und ein glückliches Leben verwehrt hatten. Sie schrieb zahllose Bestseller – und das zu einer Zeit, als sich literarische Meisterwerke besser verkauften als Bücher über Vampire oder Sadomaso-Praktiken –, sie wurde 1921 als erste Frau mit dem Pulitzerpreis ausgezeichnet (für „Zeit der Unschuld“, den Martin Scorsese verfilmt hat) und 1923 mit der Ehrendoktorwürde der Universität von Yale. Sie konnte bereits als Teenager vier Sprachen sprechen, entwarf und dekorierte eine hochmoderne Villa, war Kriegsberichterstatterin im Ersten Weltkrieg, kassierte für jeden ihrer neuen Romane den sagenhaften Vorschuss von 350.000 Dollar und musste ihre erste Verlobung lösen – wegen des „geistigen Übergewichts der Braut“.

47 Bücher hat sie hinterlassen. „Dämmerschlaf“ beispielsweise, ihr Romane aus dem Jahr 1927, der im kommenden Monat auf Deutsch erscheint und sich um eine Familie dreht, wirkt mit seinen Gurus, Moden und Ehebrüchen wie ein Sittengemälde von heute. Dämmerschlaf war eine Anfang des 20. Jahrhunderts in Deutschland erfundene Methode zur Unterdrückung des Geburtsschmerzes, die gleichzeitig jede Erinnerung an die Geburt auslöschte. Für Wharton dient dieser Begriff dazu, den halbbewussten Zustand der Damen der gehobenen Gesellschaft darzustellen. Ihnen geht es darum, schmerzfrei durchs Leben zu kommen, stets nach vorn zu schauen und an der Optimierung des eigenen Körpers zu arbeiten. Da geht es um Drogen, Psychogequassel, Schönheitschirurgie, Partylärm, Mode, Charity-Wahn, Gurus, Selbstbetrug, leeres Treiben und das Engagement für eine bessere Welt. Kommt uns bekannt vor? Hört sich an, wie ein Roman von heute? Ist es auch.

„Ein altes Haus am Hudson River“, ein Spätwerk Whartons, das im vergangenen Jahr im Manesse-Verlag erschien, ist wohl ihr eigenwilligstes, zornigstes und ehrlichstes Buch. Edith Wharton erzählt hier die Geschichte des jungen Vance Weston aus der provinziellen amerikanischen Mittelklasse, dem sich in diesem Haus zwar die Welt des Geistes öffnet, der hier aber auch Misserfolge hat, strauchelt oder unverschuldet einen Rückschlag erleidet, weil er das Intrigenspiel der gerissenen Großstadtgesellschaft nicht durchschaut.

Der Durchbruch gelang Edith Wharton jedoch 1905 mit „Das Haus der Freude“, das sich in nur vier Monaten sensationelle 140.000-mal verkauft. Es ist die traurige Geschichte der Lily Bart, die die große Liebe verpasst, weil sie auf das große Geld hofft.

Edith Wharton, 1862 in die steinreiche, alteingesessene New Yorker Familie Jones hineingeboren, hat ein ungewöhnliches Leben geführt. Ihre Großeltern sollen so viel Geld gehabt haben, dass die englische Formulierung „keeping up with the Joneses“ auf sie zurückgehen soll. Es heißt so viel wie „mit den Nachbarn mithalten“, was beim jonesschen Vermögen wohl unmöglich war. Wharton entwickelte früh ein Gefühl für die Scheinheiligkeiten ihrer Umgebung. Mit 23 Jahren ging sie eine arrangierte Ehe mit dem verarmten Bankier Teddy Wharton ein, lebte aber die meiste Zeit ihres Lebens ohne ihn in Paris. 1913 hatte sie sich von ihm scheiden lassen und machte aus ihrem Lieblingsthema Scheidung auch wieder einen Romanerfolg, „Die kühle Woge des Glücks“. Sie folgt darin Undine Spragg, einer verwöhnten, selbstsüchtigen jungen Frau, die in den New Yorker Geldadel einheiraten will und dabei nur Schiffbruch erleidet.

Durch ihren Freund Henry James, mit dem sie als Schriftstellerin sehr oft verglichen wird, lernte Edith Wharton den Journalisten Morton Fullerton kennen, mit dem sie eine leidenschaftliche Affäre hatte. In all den Jahren war sie ungeheuer produktiv. Zu ihren größten Erfolgen zählt auch „Die Schlittenfahrt“, die Geschichte Ethan Fromes, eines Farmers, der keine andere Möglichkeit sieht, seiner egoistischen Frau Zeena zu entkommen, als mit ihrer Cousine Mattie, die er liebt, Selbstmord zu begehen.

Was auch immer man von Edith Wharton liest, es dürfte ein großes Vergnügen werden. Besser noch als F. Scott Fitzgeralds „Der große Gatsby“ kann Wharton schillernde Sittengemälde und großartige Stimmungsbilder zeichnen, bei denen man gar nicht anders kann, als atemlos dem Treiben der Figuren zu folgen, die immer etwas zu verlieren scheinen – ihre große Liebe, ihre Freiheit, ihren Kampf gegen Zumutungen. Wharton schuf Klassiker der Weltliteratur, die zudem bestens unterhalten. Ende August erscheint „Dämmerschlaf“ im Manesse Verlag, der bereits einiges von Wharton im Programm hat. Ein Grund, sich zu freuen.

Edith Wharton: „Dämmerschlaf“, 311 S., Manesse Verlag. Erscheinungstag: 26. August