Am Sonntag ging das Theaterfestival in der Schanze zu Ende

Hamburg. Es gibt diese Sternstunden bei Festivals, an die man sich Jahre später noch erinnert. Unbedingt dazu zählen die absurden Verrenkungen und Tourette-Ausfälle der beiden Darstellerinnen von „Schwarztaxi Inside – Konstruktion einer Erinnerung“ vom Centraltheater Leipzig, das beim Kaltstart-Festival gastierte.

Sarah Franke und Janine Kreß mampfen pelzbemützt Berge von Kartoffelbrei und fauchen sich an einer langen Tafel an, dass es ein Fest ist. Wie bei Mystery-Meister David Lynch klingelt ein Telefon im Irgendwo. Ein Retro-Keyboard dudelt. Wie einen Krimi entspinnt Regisseur Alexander Eisenach eine Geschichte von Liebe, Betrug, Verbrechen, aber auch den Verlust von Erinnerung und des multiplen Ich.

Je näher das Festivalende rückte, desto mehr „Bravos“ fielen beim Schlussapplaus. Plattformen wie das Kaltstart-Festival sind im kulturellen Leben unverzichtbar. Sie geben nicht nur dem Hamburger Publikum Einblicke in Produktionen aus anderen Städten. Sie geben auch jungen Stadttheaterensembles und hochengagierten Künstlerinnen und Künstlern der freien Szene die Möglichkeit, ihr Können an mehreren Orten zu präsentieren und sich innerhalb der Szene zu vernetzen. Für Künstler ist das heute überlebenswichtig. Kaum ein Festival kommt ohne Koproduktionen aus.

Anverwandlungen und andere Metamorphosen bildeten diesmal im Schlussspurt einen inhaltlichen Schwerpunkt. Gleich zwei Produktionen hatten sich Franz Kafkas Erzählung „Die Verwandlung“ vorgenommen. Man kam nicht umhin, den Schauspieler Jens Koch zu bewundern, wie er in einer Arbeit vom Landestheater Hildesheim seine massige Gestalt zwischen Sessel und Badewanne hin und her wuchtet und in all der Verwahrlosung trotz spürbarer Längen einen wirklich mutigen Gregor Samsa abgab.

Die Bewegungsunfähigkeit in Körperlichkeit übersetzt hat dagegen Christian Weiß vom Mehrsichttheater Braunschweig. Drei wundervolle Tänzerinnen geben dem Ausbruch Gregor Samsas aus der Angestelltenhölle eine faszinierende physische Gestalt.

Verwandlung einmal anders sah man in der Adaption von Virginia Woolfs „Orlando“ von „Orlando and the beasty girls“, einer freien Gruppe am Hans Otto Theater Potsdam. Franziska Melker stemmt die Rolle des adeligen Literaten, der durch die Jahrhunderte reisend zur Frau wird und allerlei erotische Abenteuer übersteht, bewundernswert im Alleingang. Mehr Mut zu Brüchen mit dem Viktorianischen hätte man sich gleichwohl gewünscht.

Dennoch: Das diesjährige Kaltstart-Festival, das am Sonntag zu Ende ging, war das erfolgreichste bislang. Mehr Zuschauer, eine breitere Verankerung in der Stadt, bessere Bedingungen, eine deutliche Professionalisierung, was den Ablauf, aber auch die Inhalte angeht. Über die Jahre sind fundierte Beziehungen gewachsen zu Regisseuren und zu Häusern wie dem Ballhaus Ost oder der Rottstraße Bochum. Und mit ihnen wird es, falls das derzeit unterfinanzierte Kulturhaus III&70 über den Sommer kommt, im Herbst mit einem normalen Spielbetrieb hoffentlich weitergehen, sodass man nicht erst bis zum nächsten Kaltstart-Festival warten muss. Das wäre ein wirklicher Gewinn für die Kulturstadt Hamburg.