Kilometer abreißen im Dienste der Literatur: Die Bücherbusse versorgen die Menschen an Hamburgs Rändern mit frischem Lesestoff

Hamburg. Als der Bus um die Ecke biegt, laufen die beiden Mädchen los. Nein, sie hüpfen, wie nur Kinder hüpfen können. Und Frau Antholz winkt. Frau Siegling-Spang winkt auch. Sie sitzt diesseits der großen Windschutzscheibe und sagt: „Man kennt sich hier, die Leute freuen sich auf uns.“

Das stimmt, und deswegen ist das, was man im Hamburger Bücherbus so erlebt, fast schon kitschig. Wir sind an einem Mittwoch in Harburg unterwegs, es ist lauschig, grün und sonnig in Marmstorf, wo die fahrende Bibliothek gegen halb drei hält. Hat die gute alte Kulturpraxis Lesen immer Saison? Kommen tatsächlich immer so viele Leute, wenn der Bücherbus nachmittags in Eißendorf oder Marmstorf hält?

Gut, die Bibliothekarinnen Brigitte Siegling-Spang, Corinna Thiele und der Busfahrer Rüdiger Haase werden jetzt nicht direkt überrannt, so ist das nicht. Aber in dem zur Bücherei umfunktionierten Omnibus, der seit vielen Jahren geistige Nahrung und unterhaltsame Zerstreuung in den Hamburger Bezirk bringt, geht es doch recht lebhaft zu.

Es sind die Kinder, die hier das Tempo vorgeben: Mit schlafwandlerischer Sicherheit steuern sie die Regale der Jugendbücher an. Da, wo „Harry Potter“, Michael Ende und „Die drei ???“ stehen. Oliver, 10, er geht in die vierte Klasse, hat sich heute „Prinz Eisenherz“-Comics ausgesucht, Klassenkamerad Felix greift sich die DVD von „Die Legende der Wächter“. Und glückliche Mütter an einem Frühsommernachmittag in Harburg darf man sich ruhig wie Frau Heinemeyer und Frau Höft vorstellen. Sie schauen zufrieden aus, als ihre Söhne bei Herrn Haase Bücher und DVDs über den Tresen schieben. Herr Haase fährt, das sei an dieser Stelle gesagt, nicht nur Bus, er hilft auch bei den buchtechnischen Transaktionen.

Es kann dann schon mal passieren, dass sich ein dreijähriger rothaariger Knirps namens Riley vor ihm auf die Zehenspitzen stellt, um ein Bilderbuch in seinen vorübergehenden Besitz zu bringen. Auch da: eine eigentümlich stolze Haltung bei der Mutter. Sie lächelt. Halten wir fest, Müttern (und Vätern) gibt es den Kick, wenn ihre Nachkommen Interesse für Bücher zeigen. Weil, das weiß ja jeder, Lesen bildet.

Der Platz ist begrenzt, weshalb das Angebot effizient berechnet wird

80 Prozent der Ausleiher in den Hamburger Bücherbussen sind Kinder und Jugendliche. In Harburg fährt der Bus seit mehr als einem halben Jahrhundert, in Bergedorf seit Ende der 1970er-Jahre. Zwei Busse, ein Bestand von jeweils knapp 15.000 Medien, fünf Touren die Woche unter anderem mit den Stationen Heimfeld, Hausbruch, Zollenspieker, Moorfleet, Neu-Allermöhe und Rothenburgsort; auf dem Routenplaner der rollenden Büchereien sind Gegenden, die nicht direkt an das Bücherhallennetz Hamburgs angeschlossen sind. An Vormittagen steuern die Busse Schulen an, gerade hier ist der Kontakt zu denjenigen hergestellt, die Bücherbus-Chefin Ingrid Achilles als „Erstleser“ bezeichnet. Genau darum geht es den öffentlichen Bibliotheken, ob mobil oder stationär: junge Menschen zu Lesern zu machen. „Die Bücherbusse sind wichtig“, sagt Achilles, „weil gerade Kinder nicht immer die manchmal weite Strecke zur nächsten Bücherhalle zurücklegen können.“

An diesem Tag kommen sie oft mit ihren Eltern zum Bus. Der ist mit etwa 4500 Büchern, DVDs und CDs bestückt. Der Platz ist begrenzt, weshalb das Angebot effizient berechnet wird. Staubfänger gibt es hier nicht, die Bibliothekarin bedient den Erwartungshorizont ihrer Stammkunden. Das sind meist die Eltern der Jungleser, sie steuern den Bücherbus auch wegen eigener Lektürewünsche an. Natürlich, sagt Brigitte Siegling-Spang, „ist es das Schönste, wenn jemand nach einer Woche ein Buch zurückbringt und uns mitteilt, was für eine tolle Geschichte das war“.

Das nimmt man ihr sofort ab, dieses Berufsethos, das literarische Kennerschaft mit dem Dienstleistungsgedanken verbindet. Im Erwachsenenbereich steht die Thrillerpalette von Reichs bis Grisham, aber auch gehobene Literatur von Autoren wie David Wagner und Jan Brandt. Es ist durchaus ein nur leicht gedimmtes Stimmenwirrwarr, das hier auf engem Raum zwischen Buchwänden wandert und eine Heimeligkeit herstellt, wie sie überall da zu finden ist, wo die Haupteigenschaft die Übersichtlichkeit ist. „Kannst du die Kinder zum Chor bringen?“, fragt einer seine Nachbarin vorm Regal, und eine Dritte legt Zeugnis ab über die verschlungenen Wege, die ein Buch am Strucksbarg in Eißendorf nehmen kann: „Claudia, willst du das Buch noch mal zurückhaben, das Claus von deinem Mann bekommen hat, bevor ich es gelesen habe – oder kann ich es zurückgeben?“

Im vergangenen Jahr wurden die beiden Bücherbusse 70.000-mal besucht

Eine Dame, sie ist Krimi-Fan, hinterlässt stets auf einer bestimmten Seite eines Buches ein kleines, mit Bleistift besorgtes Erkennungszeichen. Damit sie vor der Lektüre checken kann, ob sie ein Buch nicht etwa schon gelesen hat. Der Bücherbus hat keine andere Funktion als ein Tante-Emma-Laden, in dem das, was man in Norddeutschland „klönen“ nennt, für den sozialen Kitt der Gemeinschaft sorgt: „Tachchen! Alles klar so weit?“ Hier wird nicht nur über die Klassenarbeit der Kinder geredet, aber manchmal auch nur über Bücher. „Den neuen Roman von Dora Heldt, habt ihr den?“, fragt Frau Brunne. Ja, antwortet Frau Siegling-Spang, „aber der ist schon zweimal vorbestellt“. Macht nix, denkt Frau Brunne, und lässt sich auf die Warteliste setzen.

Die Wegstrecke der Mittwoch-Linie des Harburger Busses beträgt nur 22 Kilometer, das leuchtende Blau schiebt sich gemächlich durch die in voller Blüte stehende Natur. Am Feuerteich ist es idyllisch. Schade, dass am grünen Hang keine Kühe stehen. Der Bergedorfer Bus legt teilweise 110 Kilometer im Dienste der Literatur zurück. Busfahrer Haase, der mit den Damen an seiner Seite ein Team bildet, das reibungslos seine Arbeit verrichtet, fährt eigentlich in Bergedorf und hilft heute in Harburg nur aus. Früher hat er Lkws gesteuert, und wenn er im Bücherbus sitzt, lenkt er noch sachter. Merke: Als Bücherbusführer bloß nicht zu tief in die Kurven legen, sonst gibt es im Fond den großen Bücherflug. Haase ist irgendwas zwischen 50 und 60, er raucht Zigaretten aus einem Etui und sagt: „Mein Job ist sehr schön.“

Im vergangenen Jahr wurden die Bücherbusse 70.000-mal besucht, sie haben mehrere Tausend Kunden und gehören zur Grundausstattung des Kulturangebots an Hamburgs Rändern. Existenzprobleme, sagt Koordinatorin Achilles, „hatten die Bücherbusse aber nie“. Im nächsten Jahr ist die Anschaffung zweier neuer Busse geplant.

Alle Informationen unter www.buecherhallen.de