Das große Kaltstart-Festival lockt noch bis zum 29. Juni mit Klassiker-Adaptionen und Themen von brennender Aktualität. Der Auftakt am Sonntagabend gelang äußerst vielversprechend.

Hamburg. Es ist in diesem Jahr einiges anders beim Kaltstart Theaterfestival Hamburg. Die Plattform junges Theater, die einst als Norddeutschlands unbekanntestes Festival galt, ist inzwischen zum größten Forum für junge Theaterschaffende von der Freien Szene bis zum deutschen Stadttheater herangewachsen. Und sie professionalisiert sich stetig weiter. Das merkt der Besucher nicht nur daran, dass es ausgedruckte Eintrittskarten gibt und einige Säle einen neuen Anstrich haben. Das Festivalzentrum im ersten Stock des Kulturhauses III & 70 entwickelt sich immer mehr zum gemütlichen Treffpunkt mit selbst gemachtem Nudelsalat für erschöpfte Festivalgänger. Jeden Abend lädt ein moderiertes Publikumsgespräch, das „Echolot“, kurz vor Mitternacht zur geistigen Aufbereitung des Gesehenen.

Der Auftakt am Sonntagabend gelang äußerst vielversprechend mit zwei engagiert aufbereiteten Stoffen zu Auswüchsen in Zeiten der Globalisierung. Jeder kennt in seinem Umfeld heutzutage Anhänger der Computermarke Apple, die man bisweilen eher als fanatisierte Jünger bezeichnen muss. Auch den US-Autor Mike Daisey haben die formschönen i-Geräte derart betört, dass er sich an die Produktionsstätten begab, um die Hintergründe des Entstehens zu recherchieren. Dort erfuhr er allerlei Verstörendes und lässt nun Theaterbesucher in seinem fesselnden Solo „Die Agonie und die Ekstase des Steve Jobs“ daran teilhaben.

Patrick Schnicke überzeugt in der Inszenierung vom Landestheater Tübingen als Techno-Nerd im Anzug mit Hawaiihemd, hyperventilierend angesichts jeder neuen angekündigten Gerätschaft. Mit ein paar flotten Strichen skizziert er den Werdegang des Mythos Apple auf einer Wandtafel. In grellen Farben, gleich einem Krimi, schildert er den Aufstieg des Technik-Hippies Steve Jobs und seiner Marke.

Doch die Ehrfurcht vor der unternehmerischen Pionierleistung bekommt Risse, als Schnicke die Produktionsbedingungen des Herstellers Foxconn im chinesischen Shenzhen enthüllt. Eingepfercht in riesige Hallen schuften Tausende Arbeiter auf engstem Raum unter menschenunwürdigen Bedingungen. Nach 13 Suiziden spannten die Verantwortlichen Netze zwischen den Gebäuden. „Da klebt Blut auf der Tastatur.“ Ein Abend, der nicht nur Apple-Fans bewegt.

Die Verwirrungen des Ichs in Zeiten der Globalisierung stehen auch im Zentrum des zweiten Stücks dieses Abends: in Gesine Danckwarts „Wunderland“ in einer Inszenierung der jungen Regisseurin Cilli Drexel vom Nationaltheater Mannheim. Vier Darsteller, Martin Aselmann, Katharina Hauter, Michaela Klamminger und das ehemalige Thalia-Ensemblemitglied Klaus Rodewald, überzeugen als hyperventilierende Handelsvertreter, die sich zwischen Karriere- und Geldsucht, Hedonismus und aufgeklärtem Konsum („Soja-Latte“) bewegen. Sie spucken prägnante Sätze aus wie „Ich handele nicht, ich bin.“ oder „Wir alle machen uns schuldig. Schmutzig.“ Dabei leben und lieben sie im Wartestand. Die Liebe, ja, sie ist das Hauptproblem. Von der 70-Jährigen, die sich vor Vereinsamung fürchtet, bis zum jungen Ehrgeizling, der sich im Grunde seines Herzens nur nach „Krawall und Remmidemmi“ sehnt. Und den gleichnamigen Deichkind-Song wundervoll in einem Beatbox-Konzert intoniert. Danckwarts Texte sind drastisch, pointiert, oft komisch und dialektisch eingefärbt. Regisseurin Drexel lässt den Worten ihren Raum und kreiert in der kargen Szenerie aus Podest, Vorhang und Teppich (Bühne: Timo von Kriegstein) ein Fest für die Akteure, die buchstäblich mit vollem Körpereinsatz spielen.

Das Festival erhält nur 10.000 Euro von der Kulturbehörde, was angesichts der Vielfalt und Fülle des Programms sehr bescheiden anmutet. Es ist kaum möglich, bei Kaltstart den vielen Reihen angemessen gerecht zu werden, aber Besuchern seien neben den Inszenierungen in der Reihe Kaltstart Pro auch das Performance-Format Fringe und die neue Jugendtheater-Linie ans Herz gelegt. Außerdem empfehlenswert: das Sturmflut-Special am 21. und 22. Juni (jeweils ab 15 Uhr), bei dem zwölf Gruppen aus der freien Szene Hamburgs ihre Produktionen einem Wettbewerb aussetzen. In der Autorenlounge am 23. Juni (ab 16 Uhr) präsentieren fünf bereits arrivierte Nachwuchsautorinnen aktuelle, ambitionierte Texte in szenischen Lesungen.

Kaltstart Theaterfestival Hamburg bis 29.6., Kulturhaus III & 70 (U/S Sternschanze), Schulterblatt 75, sowie Open Air im Schanzenviertel; Karten zu 12,-/erm. 8,- im Vorverkauf im Haus III & 70, an der Abendkasse und unter www.hausdreiundsiebzig.de