Das Kammerspiel von Wolf-Dietrich Sprenger überzeugte am Thalia an der Gaußstraße. Die lautmalerische Qualität der Musik ergänzte kongenial, was Sprenger mit einfachen Mitteln an großer Wirkung herstellte.

Hamburg. Ein vorzügliches Kleinod der Bühnenkunst erblickte am Wochenende im Thalia in der Gaußstraße das Licht der Welt. „Lenz – eine Erinnerung“ war der Abend überschrieben – erdacht, gespielt und eingerichtet von Wolf-Dietrich Sprenger. Der exzellente Schauspieler und Regisseur weckte die Erinnerung an den Sturm-und-Drang-Dichter Jakob Michael Reinhold Lenz und machte sie höchst lebendig, indem er die Lenz-Erzählung des Vormärz-Dichters Georg Büchner in ein dramatisches Werk verwandelte, derweil er sie vortrug.

Vor Büchners inszenierte Erzählung aber stellte Sprenger einen Auszug einer revolutionären Rede: „Über Götz von Berlichingen“, die Lenz mit Blick auf das Drama von Johann Wolfgang von Goethe von 1774 im Jahr der Uraufführung hielt. So wird greifbar, warum Büchner glaubte, an die Zeit des Sturm und Drang sei künstlerisch anzuknüpfen und so wird fassbar, was ihm an Goethe und seinen Zeitgenossen vorbildhaft schien. „Ich verlange in allem – Leben, Möglichkeit des Daseins, und dann ist’s gut; wir haben dann nicht zu fragen, ob es schön, ob es häßlich ist. Das Gefühl, daß, was geschaffen sei, Leben habe, stehe über diesen beiden und sei das einzige Kriterium in Kunstsachen“, formuliert Büchner sein fundamentalrealistisches Credo.

Auch diesem strengen Kriterium genügte Sprengers Abend vollkommen. Der wunderbare Sprecher Sprenger verkörpert auch als 70-Jähriger kraftvoll und mühelos den jungen Lenz, sitzt, steht, flüstert und tobt vor einer in Schwarz mit Spuren von Rot und Gold gehaltenen riesigen Blechwand. Die Farben der heutigen deutschen Nationalflagge waren im Vormärz Symbol der nationalen Einheit Deutschlands unter demokratischen Vorzeichen. Vor dem überwiegend schwarz grundierten Blech (Bühne: Achim Römer) zeichnet Sprenger den Weg des dichterischen Genies Lenz vom gefeierten Goethe-Freund in Weimar zum verstoßenen Wahnsinnigen. Lenz stirbt Jahre später mittellos und elend auf offener Straße in Moskau. Büchner erzählt nur einen Ausschnitt aus dem lebenslangen Absturz, erzählt vom Ausbruch der Krankheit, einer paranoiden Schizophrenie.

Es empfiehlt sich daher, vor oder nach dem Theaterbesuch die großartige Biografie „Georg Büchner. Verschwörung für die Gleichheit“ von Jan-Christoph Hauschild zu lesen, die soeben bei Hoffmann und Campe erschienen ist. Geradezu mitreißend schildert Hauschild, wie Lenz, der sich zwei Jahre nach Goethe unglücklich in Friederike Brion verliebte, später zunächst mit offenen Armen in Weimar aufgenommen, doch schon ein halbes Jahr später auf Betreiben Goethes (der in seinen Aufzeichnungen eine dem wohl vorausgegangene „Eseley“ Lenzens erwähnt) wieder ausgewiesen wird.

Nicht von ungefähr lässt Büchner also seinen Lenz von einer Geliebten namens Friedrike schwadronieren, von der er im Wahn behauptet, sie getötet zu haben. In Wahrheit wies Brion Lenz für sie selbst folgenlos ab, litt sie doch immer noch unter Liebeskummer wegen Goethe, der sie nach eigenem Bekunden schmählich hatte sitzen lassen. Mit der Selbstbezichtigung Lenzens aber taucht eines von mehreren Büchner-Werk-Motiven – hier aus dem „Woyzeck“ – auf, ein zweites ist der „Müßiggang“ der Herrschenden, der auch in „Dantons Tod“ und in „Leonce und Lena“ eine zentrale Rolle spielt.

Sprenger lässt diese Anspielungen in seinem Spiel anklingen, aufblitzen. Im Sog der Geschichte hält der 70-minütige Theaterabend ohne Pause ein gutes, elegant rhythmisiertes Tempo. Manch Donnerschlag auf die Blechwand dient dem Zweck. Ohne Müßiggang auf der Bühne keine Langeweile im Publikum. Entscheidenden Anteil am Erfolg der Inszenierung hat der Kirchenmusiker und Pianist Claus Bantzer. Der erfahrene Komponist mancher Filmmusik sitzt rechts am Bühnenrand und steuert live am Klavier seine Lenz-Bilder einer Klangausstellung bei.

Die lautmalerische Qualität der Musik erhöht, beschleunigt und ergänzt kongenial auf einer zweiten Ebene, was Sprenger mit einfachen Mitteln an großer Wirkung herstellt. Zudem spricht Bantzer am Klavier die Rolle des Oberlin, die Worte des Theologen also, der Lenz in einer kritischen Phase seiner Krankheit beherbergt und pflegt. Auf den minutiösen Tagebuchaufzeichnungen des realen Oberlins zum Krankheitsverlauf Büchners basiert die Erzählung. Am linken Bühnenrand ergänzt Friederike Zörner mit Texten und Gesang den dreistimmigen Chor.

„Lenz – Eine Erinnerung“ Thalia Gaußstraße, Termine: 9. Juni