Zwei starke Filme werfen beim Festival in Cannes die Frage auf, wie man sich verhält, wenn man ungerecht behandelt wird. Erstmals spielt in einer Verfilmung von Kleists “Michael Kohlhaas“ ein Deutscher die Titelrolle.

Cannes. Auch wenn „Tore tanzt“ in unseren Tagen in einer Hamburger Schrebergartenkolonie spielt und „Michael Kohlhaas“ vor mehr als vier Jahrhunderten in den französischen Cevennen – an einem Punkt treffen sich diese einzigen Filme mit Deutschlandbezug, die 2013 nach Cannes eingeladen wurden: Es geht darum, wie man sich verhält, wenn man ungerecht behandelt worden ist.

In Heinrich von Kleists „Michael Kohlhaas“ widerfährt einem Pferdehändler von einem Baron Unrecht, und als Gerichte das nicht korrigieren, greift er zur Selbstjustiz und lädt selbst Schuld auf sich. Es ist das deutsche Gerechtigkeitsdrama par excellence, in den bisherigen vier Verfilmungen hat aber noch nie ein Deutscher die Titelrolle gespielt, sondern der Schweizer Max Haufler, der Brite David Warner, der Amerikaner John Cusack und nun Mads Mikkelsen. Der Däne ist der bei Weitem imposanteste aller Kohlhaasen, wie er stolz durch die karge Pracht des Hochplateaus reitet, könnte er gerade vom Set eines „Excalibur“-Films herübergewechselt sein.

Der Regisseur Arnaud des Pallières lässt für sein lang gehegtes Projekt Kleist weitgehend intakt, außer dass er die Handlung nach Südfrankreich verlegt und Kohlhaas zur Frau noch eine Tochter gibt. Pallières taucht seinen Film in ein fahles, spätherbstliches Licht, das Mittelalter dämmert seinem Ende entgegen und der Gesellschaftsvertrag des Absolutismus zeigt sich bereits in Umrissen am Horizont.

Das ist ja auch der Hauptkonflikt bei „Michael Kohlhaas“, zwischen dem mittelalterlichen Recht des Einzelnen auf Selbstverteidigung gegen eine willkürliche Obrigkeit und der absolutistischen Rechtsauffassung, wonach Rechtsdurchsetzung ein höherer Wert ist als Gerechtigkeit.

Andere Werke Kleists sind wesentlich häufiger verfilmt worden als der „Kohlhaas“ (z.B. „Der zerbrochene Krug“ ein Dutzend Mal), und das dürfte daran liegen, dass der Grundkonflikt Selbstjustiz versus Justitia eigentlich entschieden ist; interessanterweise erfolgte Volker Schlöndorffs „Kohlhaas“-Verfilmung 1969 in einer Zeit des Aufruhrs, auch gegen die Rechtsprechung. Davon kann heute keine Rede mehr sein, und so findet des Pallières keine Brücke in die Gegenwart. Mikkelsens „Kohlhaas“ ist ein zutiefst historischer, und wie in der Novelle nimmt er das Urteil widerspruchslos hin und akzeptiert es als gerechte Strafe.

Die Akzeptanz der Hauptfigur von „Tore tanzt“ ist ganz anderer Art. Wir befinden uns auf einem Raststättenparkplatz, und das Auto des Familienvaters Benno will nicht mehr anspringen – bis ein blonder junger Mann der Kühlerhaube seine Hände auflegt, Jesus um Hilfe bittet und der Motor wieder seinen Dienst aufnimmt.

„Tore tanzt“ ist der Debütfilm der 30-jährigen Wahl-Hamburgerin Katrin Gebbe, die an der Hamburg Media School studiert hat, und eigentlich der einzige deutsche Film in Cannes; in „Kohlhaas“ stecken zwar deutsche Gelder und eine Berliner Co-Produzentin und David Kross und David Bennent und Bruno Ganz in Nebenrollen, aber bis auf zwei deutsche Sätze wird französisch gesprochen.

Dieser Tore ist ein Jesus-Freak, Gebbes Film jedoch nicht wirklich ein Porträt religiöser Punks. Tore (der Kinoneuling Julius Feldmeier) trifft Benno (Sascha Alexander Gersak, der gerade auch Murat Kurnaz in „Fünf Jahre Leben“ verkörpert) zufällig wieder, und der lädt ihn zu sich in die Gartensiedlung ein, zu Frau, Teenager-Tochter und kleinem Sohn. Dort entwickelt sich nun eine für das alles erklärende, alles einebnende deutsche Kino zutiefst ungewöhnliche, verstörende Geschichte.

Die Geschichte von „Tore tanzt“ wird unerbittlich zu Ende erzählt

Vielleicht ist es im Wesentlichen die von dem schüchternen Jungen, der den Schulhofschläger desto mehr zum Drangsalieren herausfordert, je friedlicher er ist. Tore jedenfalls, der sich „Jesuskrieger“ nennt und das mit dem Hinhalten der anderen Backe ernst meint, wird zunehmend zur Zielscheibe von Bennos sadistischen Instinkten. Und nicht nur von seinen. „Tore tanzt“ zeigt mustergültig die Mechanismen der Aggression, die sich bei Nichtwehren noch verstärkt.

Doch Gebbe geht weiter, über Psychologie und Soziologie hinaus, sie nimmt die religiöse Dimension der Jesusfigur Tore ernst. Der hat – im übertragenen Sinn – sein Kreuz zu tragen und er wird darangenagelt werden und all das vielleicht nur, um zwar nicht die gesamte Menschheit zu retten, aber immerhin einen einzigen, konkreten Menschen.

Es wimmelt in „Tore tanzt“ vor religiösen Anspielungen, und für die unerbittliche Konsequenz, mit der er seine Geschichte zu Ende erzählt, und für die konsequente Weigerung, sich auf eine Interpretation festzulegen, hat Gebbes Debüt seinen Platz in dem großen Kinolaboratorium Cannes unbedingt verdient.