Bei der ersten Echo-Jazz-Verleihung in Hamburg gehen heute mehr Preise an Hamburger Musiker als in den vorangegangenen Jahren zusammen.

Hamburg. Heute spielen wir mal verkehrte Welt. Ort des Geschehens: die in Sachen lokaler Jazz derzeit eher Unfrohe und Hansestadt Hamburg. Der wichtigste Club der Stadt, das Birdland, macht Ende Juni zu, das Fools Garden mit seiner Reihe „Jazz im Schanzenviertel“ schließt im Herbst. Der Jazzstudiengang an der Musikhochschule, eh schon der kleinste der Republik, kann seinen Betrieb nur unter permanenter Selbstausbeutung der Lehrkräfte aufrechterhalten und krebst am untersten Limit seiner Möglichkeiten.

Mitten in dieses selbst für Jazzverhältnisse wenig bekömmliche Maß an atmosphärischen Blue Notes tritt nun ein strahlender Dur-Septakkord: Am heutigen Donnerstag wird in der Fischauktionshalle erstmals der Echo Jazz in Hamburg verliehen. Für die Party gibt der Senat aus der Kulturtaxe 100.000 Euro dazu und wird das auch in den beiden kommenden Jahren tun. Und wie dem gefühlten Blues der Szene zum Hohn: Hamburg stellt in diesem Jahr mehr Preisträger als in allen vorangegangenen Jahren zusammen.

Die NDR Bigband hat in Deutschland kaum Konkurrenz zu fürchten

Den Echo Jazz gibt es seit 2010, er ist, wie seine Brüder Echo Pop und Echo Klassik, ein Kind der Musikindustrie, genauer: der Deutschen Phonoakademie. Die Branche zeichnet nationale und internationale Künstler in allerlei Kategorien aus – Solisten in den gängigsten Instrumenten, Sänger, Bands, aber auch sich selbst. Das Fachgeschäft des Jahres, die bestverkaufte Jazz-CD, und, ermittelt in einer Online-Abstimmung, Label und Liveact des Jahres.

Die Hamburger Preisträger 2013 sind Caro Josée (Gesang national), der Pianist Hans Lüdemann (editorische Leistung), die NDR Bigband (für ihr Album „Live in Hamburg“ mit Stefano Bollani), der Vibrafonist Wolfgang Schlüter (Instrumentalist national, besondere Instrumente), Giovanni Weiss (Gitarre, national) und der Trompeter Nils Wülker (Blechbläser national). Hamburger Preisträger? Weil Hamburger ist, wer entweder hier geboren wurde oder künstlerisch hier zu sich selbst gefunden hat, geht die Eingemeindung der Genannten wohl in Ordnung.

Hamburgisches Geburtsrecht kann Hans Lüdemann für sich beanspruchen, den man mit der Stadt vielleicht inzwischen am wenigsten in Verbindung bringt. Geboren in Rotherbaum, aufgewachsen in Harburg, als Kind Flötenschüler der Mutter von Matthias Halfpape gewesen, besser bekannt als Heinz Strunk: ausreichend viele hanseatische Glaubwürdigkeitspunkte für den Pianisten, der allerdings in den frühen 80er-Jahren als einer der Ersten den Exodus aus Hamburg betrieb. Im Vergleich zu heute war Hamburg damals tatsächlich eine große Jazzwüste. Wer als Musiker etwas konnte, wie Andreas Willers, Gebhard Ullmann oder eben Hans Lüdemann, der ging zum Jazzstudium nach Köln. Lüdemann spielte bald mit den Größten. Vom Pianisten Paul Bley hat er fürs Leben gelernt, dass man im Jazz alles darf. Bloß niemanden kopieren.

Daran hat er sich gehalten. Die „editorische Leistung“, für die er den Echo erhält, heißt „Die Kunst des Trios“ und ist eine Box mit fünf CDs und einer DVD. Ausführlich kommentiert, präsentiert sie Live-Aufnahmen mit fünf verschiedenen Klaviertrios, die beim jeweils einzigen Konzert nach minimalen Proben (auch das ein Tipp von Paul Bley) entstanden. In immer neuen, aufregend differenzierten Varianten geht Lüdemann mit seinen diversen Spielpartnern den Möglichkeiten spontaner musikalischer Kommunikation zwischen der kollektiven Erfindung im Moment und der gemeinsamen Ausgestaltung von Komponiertem nach. Das ist Jazz pur, nicht nur für Puristen.

Caro Josée ist vielleicht die größte Überraschung unter den Preisträgern. Mit ihrem im letzten Sommer erschienenen Album „Turning Point“ gelang der Sängerin, die vor einem halben Menschenleben unter dem Namen Caro eher als Rocksängerin bekannt war, im schon etwas reiferen Alter ein sehr intimes, zigeunerisch-amerikanisch klingendes Comeback. Ihr Gesang rückt sie in eine Seelenverwandtschaft zu Marianne Faithfull oder Rickie Lee Jones, ohne deren Morbidezza, aber mit vergleichbar tiefer Lebenserfahrung.

Zeichnete die Jury hier einen Neubeginn aus, so würdigt sie mit Giovanni Weiss einen Newcomer, freilich einen, der knöcheltief in der musikalischen Überlieferung seiner Vorväter watet. Das Debütalbum „Wilhelmsburg“ der Gruppe Django Deluxe, deren Leadgitarrist Weiss ist, schreibt den Gypsy-Swing Django Reinhardts überzeugend und authentisch ins 21. Jahrhundert fort.

Mit ihrem zweiten Echo Jazz zeigt die NDR Bigband, dass sie in Deutschland kaum Konkurrenz zu fürchten hat. Zu den Kompositionen des italienischen Klavier-Derwischs Stefano Bollani fährt sie in den Arrangements des Norwegers Geir Lysne ihre gewohnt hohe Kunst des Ensemblespiels und kühne Sololeistungen auf. Ihr langjähriger, vor vielen Jahren pensionierter Vibrafonist Wolfgang Schlüter bekommt mit dem Preis als Instrumentalist wohl auch eine Anerkennung für sein Lebenswerk; schließlich galt er schon zu Zeiten, als die NDR Bigband noch aufs Hafenkonzert abonniert war, als einer ihrer raren musikalischen Freigeister.

Der fürs Melodische unverschämt begabte Trompeter und musikalische Geschichtenerzähler Nils Wülker ist in Bonn geboren und hat in Berlin studiert. Aber was er ist, wurde er vor allem in Hamburg, obgleich er sich von den Niederungen der lokalen Szene weitgehend ferngehalten hat. Die Schließung des Birdland betrifft ihn existenziell überhaupt nicht, er dürfte neben der Bigband der einzige Hamburger Act sein, der auch auf dem Elbjazz Festival größere Hallen füllt. Dennoch sieht Wülker die Jazz-Entwicklung in der Stadt mit Sorge und Kummer.

Aber heute spielen wir verkehrte Welt. Sehen mit stolzgeschwellter Brust unsere Freie und Jazzstadt Hamburg, genießen die Aufmerksamkeit, die für ein paar Stunden auf uns ruht. Imaginieren uns den Fischmarkt als den neuen Congo Square von New Orleans, auf dem der Legende nach einst alles begann mit dem Jazz. Und träumen, dass spätestens in zwei Jahren, wenn der Echo Jazz seine dritte Ausgabe in Hamburg feiert, hier wieder blühende Ebenen der improvisierten Musik entstanden sind, mithilfe der Stadt.