Das bemerkenswerte Musiktheaterprojekt „Dem Weggehen zugewandt“ mit Senioren auf Kampnagel ist ein Blick in den Spiegel der Zeit

Hamburg. Das Alter ist unerbittlich; warum sollte ein Musiktheaterprojekt, das sich dem Thema widmet, mehr Erbarmen zeigen? In „Dem Weggehen zugewandt“, einem bemerkenswerten Bühnenprojekt von Union Universal, das jetzt auf Kampnagel bei „Old School – Von Alten lernen“ seine Uraufführung erlebte, ist eine künstlerisch verdichtete Heim-Suchung der besonderen Art zu erleben (noch heute, 19.30 Uhr).

Auf der großen Bühne der K 6 stimmt ein Chor aus 60 Senioren das Publikum mit unverständlichem Gebrabbel, das sich refrainartig in Jas und Neins verfängt, auf den letzten Lebensraum ein, der noch bleibt vorm Weggehen. Was wie eine peinigend verstärkte Tonspur aus den Zimmern, Fluren und Gemeinschaftsräumen deutscher Alten- und Pflegeheime ans Ohr dringt, ist Theater in seiner archaischsten Form: Es handelt von jedem, der es sieht. Eine andere Tonspur verkündet über quäkende Lautsprecher mal den Tagesplan auf dem Seniorenspeiseteller, mal absurde Instruktionen zur Sicherheit auf den Zimmern.

Aus dem Chor lösen sich im Verlauf der Aufführung vier alte Darstellerinnen, die ihr Leben in Bühnenberufen verbracht haben. Die fabelhafte Ursula Staack, jahrzehntelang am Deutschen Theater Berlin, spielt in ihrem Solo eine Wirtschaftswunderwitwe, die sich an die Ferien mit ihrer Familie auf immer demselben Campingplatz in Italien erinnert. Gnadenlos singt ihr der Chor dazu das Lied „Il silenzio“, ihr Lebenslied, das so dröhnend von der Stille erzählt.

Fe Reichelt bewegt sich so, wie es ihr Vorname verheißt. Sie verkörpert eine alt gewordene Fee, die ihrem zunehmend seinen Dienst versagenden Körper noch Reste von Tänzerischem abtrotzt. Carin Abicht redet beschwörend auf drei der zwölf Musiker des Ensembles Kaleidoskop aus Berlin ein, das die filigran-reduzierte Streichermusik von Manuela Kerer spielt. In den Erinnerungs-Loops ihrer Figur aus einer Bombennacht zeigt sich das Doppelgesicht des Gedächtnisses: Die Erinnerung sei ein Glück, behauptet sie. Niemand könne sie ihr nehmen. Und doch ist das ungewollte Vergessen wie das Nichtvergessenkönnen von anderem der Fluch des alten Gedächtnisses. Bärbel Bolle macht dies als eine in ihrer Ehe schrecklich Gescheiterte am empfindlichsten spürbar. Sie hat sich verliebt in Wernerchen, gespielt von Manfred Andrae. Er kann kaum noch gehen, nicht mehr sprechen und ist immer sehr da.

Die Fassbinder-Weggefährtin Irm Hermann liest und rezitiert aus Aufzeichnungen und Tagebucheinträgen der 80-jährigen Autorin des Stücks, Ilse Helbich. Noch in der eigenen Wohnung, protokolliert sie in der dritten Person den Prozess ihres Altwerdens. Namen, die ihr nicht mehr einfallen, Beine, die eines Morgens nicht mehr gehorchen.

Der Chor durchmisst den Bühnenraum auf Rollbänken, er tanzt Erinnerungswalzer in Zeitlupe, er schläft den kollektiven Seniorenschlaf, zeigt sich aber auch überraschend agil.

Diesem diszipliniert gebauten Theater der letzten Dinge sieht man manche Länge nach, denn es geht unter die Haut. Es weckt Empathie und hält Jüngere zum Blick in den Spiegel der Zeit an. Verlöschende, dabei immer wieder mal aufflackernde Erinnerung, das verwirrende Ineinander von Träumen und Wirklichkeit, von Erlebtem und Fantasiertem: Wirst du nur alt genug, dann kommt es auch zu dir.

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