Stefan Haschke und Benno Ifland glänzen als ungleiches Brüderpaar in „Rain Man“ an den Hamburger Kammerspielen. Christian Nickel gelang seine beste Inszenierung unter den drei Filmadaptionen für die Bühne.

Hamburg. Auf einen Blick wird klar: Wir befinden uns in Amerika. Grellfarbige Reklame- und Comic-Figuren fesseln das Auge des Zuschauers in den Kammerspielen. Superwoman fliegt von der Bühne auf ihn zu. Barbie und John Travolta posieren überlebensgroß. Die Simpsons mit den Kugelaugen leuchten knallgelb. Dazu lächeln Nancy und Ronald Reagan huldvoll herab. Der stockkonservative Präsident der 1980er-Jahre förderte mit seinen Programmen das Militär sowie Wachstum und Wohlstand für die Reichen und kürzte die staatlichen Sozialleistungen. Ums Geld drehte sich der American Way of Life.

Fieberhaft an zwei Telefonen quasselnd, jagt der junge Autohändler Charlie Babbitt (Stefan Haschke) einem Deal nach, versucht mit seiner fetten, pausenlos mampfenden und paffenden Sekretärin das Geschäft und seine Firma zu retten. In der karikaturhaften Eröffnungsszene vermittelt Regisseur Christian Nickel treffend und ulkig den damaligen Zeitgeist, in dem das Drama „Rain Man“ spielt. Dan Gordon schrieb es nach dem Drehbuch zu Barry Levinsons Oscar-prämierten, 1988 herausgekommenen Film mit Dustin Hoffman und Tom Cruise. Trotz der Schauplatzwechsel im Roadmovie gelang dem Autor ein auf das ungleiche Brüderpaar Charlie und Raymond konzentriertes Kammerspiel, das der Regisseur auf Birgit Voß’ Simultanbühne flüssig und mit prägnant gezeichneten Charakteren umsetzt.

Haschke spielt den gefühlskalten Kerl, der Menschen nur benutzt, wie es seine Freundin Susan ausdrückt. „Na und?“ ist seine einzige Reaktion auf die Nachricht vom Tod des ihm verhassten Vaters. Als er erfährt, dass er nur ein Auto und Rosenstöcke erbt, das Vermögen von sieben Millionen Dollar aber an eine Klinik für geistig Behinderte geht, entdeckt er, dass er einen älteren Bruder hat – den autistischen Raymond. Charlie entführt ihn, um sein ihm zustehendes Erbteil zu erpressen. Eine Reise voller Hindernisse und Zwischenfälle beginnt, auf der die beiden Brüder schrittweise zusammenfinden.

Wieder mal in einem Hotel, rückt Raymond (Benno Ifland) auf dem Bett ein wenig zur Seite, deutet mit einer leichten Handbewegung Charlie an, sich neben ihn zu setzen. Es ist das erste Mal, dass der „Vollidiot“ und der „coole Hund“ dasitzen und eine Art kumpelhaftes Einverständnis zwischen ihnen aufkeimt. Sie beschließen, ein Spielkasino in Las Vegas auszunehmen. „Darauf kannst du deinen Arsch verwetten“, sagt Ray plötzlich. Denn er ist ein sogenannter „Prodigious Savant“, ein Inselbegabter, der zwar ein phänomenales visuelles Gedächtnis besitzt, aber Gefühle nicht ausdrücken kann und in der zwischenmenschlichen Kommunikation völlig versagt. Tatsächlich gewinnen Ray und Charlie im Glücksspiel. Er benötigt auch dringend das Geld, denn mittlerweile sind die Geschäfte geplatzt, die Firma pleite und die Freundin fort. Der Jüngere lernt den Älteren langsam zu verstehen und entschuldigt sich sogar bei ihm.

Benno Ifland spielt mit bewundernswerter Einfühlung, Rays auf Zahlen und Zeiten fixierten Zwangscharakter. In der berühmten „Zahnstocher-Szene“ weiß er die am Boden verstreut liegende Anzahl, nämlich 246, vermag das halbe Telefonbuch oder das Fernsehprogramm zu rekapitulieren. Ray reagiert jedoch panisch auf jede Veränderung der gewohnten Lebensumstände in der Klinik und versetzt Charlie abwechselnd in Weißglut und Verzweiflung. Weil Ray Angst vor dem Fliegen hat, müssen die beiden im Auto über die Landstraßen nach Los Angeles fahren. Oder er verlangt Punkt sieben Uhr sein Abendessen mit exakt acht Fischstäbchen. Den Kopf schief gelegt, brabbelt Ifland mit ausdruckslosem Blick abgehackt die Sätze und antwortet nahezu automatisch „Ich weiß nicht“. Der Schauspieler hält das gehemmt starre Körperbild konsequent durch, zeigt aber auch die lichten Momente, erste scheue Gefühlsreaktionen, wenn er den Namen des Bruders flüstert, und bezaubert in manchen Situationen durch eine geradezu rührende Komik.

Die Hauptdarsteller spielen anrührend, die Episodenrollen sind treffend besetzt

Zum Beispiel in der Szene, in der Charlie versucht, Ray das Tanzen beizubringen und behutsam dessen Angst vor körperlichem Kontakt zu überwinden. Zögernd hebt Ifland seine Arme, schwankt von einem steifen Bein auf das andere und umarmt linkisch seinen Bruder. In der Begegnung mit Charlies Verlobter Susan, die wegen des Vertrags zurückkehrt, lernt er mit vorsichtig gespitzten Lippen das Küssen.

Auch die Episodenrollen sind treffend mit Klaus Falkhausen als formale und doktrinäre Ansichten vertretendem Klinikarzt und Ole Schloßhauer als skurrilem Juristen besetzt. Wirkt Jessica Ohl als Charlies Freundin Susan manchmal noch etwas zu theatralisch aufgesetzt, zeigt Meike Harten die Spannbreite ihrer präzis knappen und lebensprallen Figurenzeichnung von der Sekretärin im Fat Suit über die dümmliche Imbiss-Serviererin am Flughafen bis hin zur attraktiven „tanzenden Nutte“, mit der sich Ray unschuldig nur unterhalten will.

Christian Nickel lässt die Szenen filmisch rasch ineinander gleiten, überbrückt die Umbauten mit kurzen Soloszenen und 80er-Jahre-Popsongs. Bei aller betonten Komödiantik vermittelt er doch auch den Ernst des Familiendramas, in dem sich zwei Männer begegnen, von denen jeder auf seine Weise auch ein Opfer der Umstände und einer lieblosen Erziehung ist.

Charlie erkennt schließlich, dass Geld nicht alles ist. Er lehnt es ab, seinen Bruder für eine „Abfindung“ zu verkaufen und entscheidet sich zu dessen Bestem und Wohl. Regisseur und Schauspieler lassen auch die Kritik am Menschen zerstörenden Materialismus spüren und am Umgang der Gesellschaft mit ihnen als Fremde, die nicht nach den Normen funktionieren.

Nach „Sein oder nicht sein“ im Altonaer Theater, der „Zeit der Zärtlichkeit“ an den Kammerspielen, gelang Christian Nickel mit „Rain Man“ – um es mit Ray zu sagen – seine „definitiv“ beste Inszenierung unter den drei Filmadaptionen für die Bühne. Natürlich hat der Regisseur das auch seinen beiden Hauptdarstellern zu verdanken, die anrührend, humorvoll und nuancenreich die Entwicklung ihrer Charaktere gestalten, sie glaubhaft und plastisch in ihrer Annäherung und Wandlung nachvollziehen. Das Premierenpublikum dankte ihnen und dem Ensemble mit Bravo-Rufen und begeistertem Beifall.

„Rain Man“ bis 2.6., Kammerspiele, Karten unter T. 41 33 440; www.hamburger-kammerspiele.de

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