Eine Beobachtung von Verena Fischer-Zernin

Selten kommt man seinen Mitmenschen so nah wie in der Oper, selten hat man so ausgiebig Gelegenheit, seine Fähigkeiten zur Einfühlung am lebenden Objekt zu trainieren. Was gibt es doch für geheimnisvolle Notwendigkeiten im Leben! Neulich wieder, es gab "La Traviata". Der Nachbar zur Rechten etwa muss den ganzen ersten Akt hindurch in seinem Gesicht nach einer imaginären Nudel tasten, und je nachdem, ob er gerade auf Kinn, Wangen oder Hals unterwegs ist, klingen die Bartstoppeln unterschiedlich. Die Dame in der Reihe dahinter justiert jede zweite Minute mit einem dezenten Sauglaut das Gebiss. Jede andere Minute streicht sie dann mit den Handflächen ihren Rock glatt und bringt den Stoff zum Knistern. Nach besonders herzerwärmenden Arien verspürt das Pärchen in der vorderen Reihe sichtlich - so dunkel ist es dann auch wieder nicht - einen Kuschel-, Tuschel- und Schmusezwang.

Als Dreingabe kommen dann saisonal schwankende Elemente wie Husten, Räuspern und Schnäuzen dazu. Und an Redezwang leiden zahlreiche Hörer noch bis etwa zur Hälfte der Ouvertüre. Das sei doch Kino, sagen Sie? Probieren Sie's aus, Dammtorstraße 25. Woran Sie den Unterschied merken werden: Der Werbeblock fehlt. Deshalb kommt auch kein Eisverkäufer.