Trümmerfrauenmütter und Soldatenväter: Wunden aus Krieg und NS-Zeit wirkten noch auf Nachkommen, erläutert eine Generationen-Forscherin.

Mehr als 67 Jahre sind vergangen seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Und doch hat der ZDF-Dreiteiler "Unsere Mütter, unsere Väter" noch einmal eine intensive Diskussion darüber ausgelöst, wie die Deutschen den Krieg und das NS-Regime verarbeitet haben. Die Autorin Sabine Bode, Jahrgang 1947, setzt sich damit seit Jahren auseinander, unter anderem in ihren Büchern "Kriegsenkel", "Die vergessene Generation. Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen" und "Nachkriegskinder - die 1950er Jahrgänge und ihre Soldatenväter".

Hamburger Abendblatt: Frau Bode, gerade jüngere Zuschauer des Films merken, wie wenig sie über die Erlebnisse ihrer Großeltern oder Eltern in den Kriegsjahren wissen. In deutschen Familien wurde darüber kaum geredet. Warum haben wir auch zu wenig nachgefragt?
Sabine Bode: Kinder spüren es, wenn sie auf ihre Fragen keine Resonanz bekommen. Da hängt zum Beispiel über der Ehebetthälfte der Mutter ein Foto ihres gefallenen Lieblingsbruders mit Stahlhelm, darunter der Spruch: Humor ist, wenn man trotzdem lacht. Darauf kann sich ein Kind keinen Reim machen, es denkt, der ist doch tot. Aber mehr hört es von der Mutter nicht. Das prägt sich ein. Es ist wie ein Stochern im dichten Nebel.

Auch wer nachforscht wie der Hamburger Autor Uwe Timm, dessen Bruder bei der SS war, bekommt von den Eltern nur ausweichende Antworten. Sind die Kriegsjahre eine "Schmerzzone", die später hermetisch abgeriegelt wurde?
Bode: Die Kriegsjahrgänge haben meiner Meinung nach nicht verdrängt, sondern verleugnet. Sie haben gesagt, sie hätten nichts gewusst, und sich irgendwelche Anekdoten zurechtgelegt. So macht man es, wenn man stabil bleiben will. Je älter ich werde, desto mehr wächst mein Verständnis dafür. Als ich jung war, dachte ich: Wie ist das möglich, ich erfahre in der Schule vom Holocaust, und die Eltern reagieren darauf anscheinend völlig unberührt? Heute denke ich: Sie konnten nicht anders reagieren.

Warum nicht?
Bode: Bei einer Radiosendung, an der ich teilnahm, sagte ein fast 90-jähriger Anrufer, der am 8. Mai 1945 in Kriegsgefangenschaft gegangen war: "Wir hatten alle ein schlechtes Gewissen." Gerade die Jahrgänge, die in "Unsere Mütter, unsere Väter" geschildert werden, sind von der NS-Propaganda indoktriniert worden bis zum Anschlag, haben ihr lange geglaubt. Das Kriegsende war für sie der Zusammenbruch einer Lebenslüge. Man kann sich das gar nicht schlimm genug vorstellen.

Das hatte Nachwirkungen in den Familien, die Sie untersuchen. Was erzählen denn die Kinder der Kriegsteilnehmer?
Bode: Die Kriegsväter waren oft verstörte Männer. Besonders zwei Bilder werden da beschrieben: Entweder lag der Papa in den 50er-Jahren apathisch auf der Wohnküchen-Couch, oder er war ein unberechenbar cholerischer Wüterich. Oder beides im Wechsel. Wenn man im Krieg selbst erlebt hat, was der Fernsehfilm zum ersten Mal so drastisch zeigt, dann muss man einen Schnitt machen und sagen: Das war's, tiefe Gefühle lasse ich nicht mehr an mich heran. Dann sind aber Kinder die größten Störenfriede mit ihrer Spontaneität, ihrem Lachen, Weinen und ihren kuriosen Ideen. In vielen Elternhäusern war die Atmosphäre nach dem Krieg kinderfeindlich, sehr kühl, sehr leistungsbetont. Ich selbst habe diese Kinderfeindlichkeit in den 50er- und 60er-Jahren noch gespürt. Und der Hauptgrund war, dass diese Eltern in keiner Weise mit ihren traumatischen Erlebnissen fertiggeworden waren. Auch nicht mit dem Trauma, das durch Schuldverstrickungen entstanden war.

Wie reagieren denn Kinder, wenn die Eltern so verkapselt sind?
Bode: Sie mussten alles selbst regeln und erfuhren wenig Solidarität. Wenn es Schwierigkeiten gab, waren sie immer "selber schuld": Hättest besser aufpassen müssen, wärst du doch artig gewesen. Solche Kinder sind auf sich selbst zurückgeworfen. Die meisten Eltern haben zwar für eine gute Ausbildung gesorgt, aber seelische Unterstützung haben sie nicht gegeben. In vielen Familien tritt erst eine Friedlichkeit zwischen den Generationen ein, wenn die Eltern im Ruhestand sind.

Viele Erwachsene erinnern sich an diese Kühle, etwa an die starke Mutter, die nicht in den Arm nehmen kann, auch an die Gefühlsferne zwischen den Eltern. War das Schweigen der Eltern auch eine Nachwirkung der NS-Pädagogik? Die Nazis wollten ja zur Härte erziehen.
Bode: Ja, es hieß: Nicht nur der deutsche Junge, auch das deutsche Mädchen weint nicht. Einige NS-Erziehungsbücher hatten verheerende Folgen, etwa "Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind" von Johanna Haarer, das Standardwerk der NS-Mütterschule. Darin steht, wie man ein Kind zur Bindungslosigkeit erzieht und dazu bringt, Bedürfnisse in sich zu begraben. Das ist wirklich bestürzend. Am bekanntesten ist der Satz, man solle ein Kind ruhig schreien lassen. Es gab später richtig Krach, als die 68er sagten: Jetzt reicht es mit dieser repressiven Erziehung. Es hat nicht einmal eine Generation gedauert, bis solche Erziehungsgrundsätze überwunden waren. Heute vermittelt jede Familienserie, dass man Kinder respektieren soll. Aber wenn man sich Heinz-Erhardt-Filme aus den 50ern anschaut, wundert man sich, was da die Kinder zu hören bekamen.

In der Nachkriegszeit wurden Kinder dazu erzogen, sich anzupassen, nicht aufzufallen, fleißig und gehorsam zu sein. Ist diese sehr deutsche Symptomatik auch ein Erbe der Kriegszeit?
Bode: Sie ist gerade in den Vertriebenenfamilien auffallend häufig. Natürlich sind Gehorsam, Anpassung, Leistung auch urpreußische Tugenden. Aber die Heftigkeit von 1968 hat gezeigt, wie erdrückend sie empfunden wurden und wie überfällig es war, sie zu hinterfragen.

"Unsere Mütter, unsere Väter" handelt von fünf jungen Leuten, die ins spannende Leben starten wollen, aber auf brutale Art um ihre Ideale gebracht werden.
Bode: Sie brechen auf als ganz normale 20-Jährige, ausgelassen, aufgeregt. Und dann werden sie mit Schrecken konfrontiert, die sie sich nicht vorstellen konnten. Hannah Arendt hat sich nach dem Krieg gewundert, wie scheinbar unbeteiligt die Deutschen durch ihre Ruinen stolperten. Das waren traumatisierte Menschen. Nur hat man damals noch nicht von Trauma gesprochen. Wir haben das früher auch nicht so sehen können. Wenn man sagte, jemand sei Opfer des Krieges geworden, wurde befürchtet, man wolle die deutsche Schuld relativieren.

Weil in der Bundesrepublik der 50er- und 60er-Jahre noch ein ideologisches Lagerdenken herrschte? Zwischen verschiedenen Betroffenen-Gruppen - den Kriegsheimkehrern, den Vertriebenen, den Verfolgten, Trümmerfrauen und Hinterbliebenen, andererseits den Kriegsgewinnlern und Tätern - gab es ja zum Teil tiefe Feindschaft, jede betrieb ihre eigene Erinnerungs- und Rechtfertigungskultur.
Bode: Ja, ich denke, diese Lager haben sich sogar erst mit dem Mauerfall aufgelöst. Kriegskinder hätten einen solchen Film wie "Unsere Mütter, unsere Väter" noch nicht machen können, es ging lange Zeit immer nur darum, das ideologisch "Richtige" zu sagen. Natürlich ist klar, dass Deutschland den Krieg begonnen und den Holocaust akribisch geplant und durchgeführt hat. Aber wenn wir nicht an die große Politik, sondern an die Individuen denken: Auch hier gab es tiefe Wunden. Egal wodurch sie verursacht waren, sie taten einfach weh.

1979 haben rund 15 Millionen Deutschen im Dritten Fernsehprogramm die Serie "Holocaust" gesehen, die offenbar zum ersten Mal in vielen Familien die Zungen löste. Eltern erzählten, wie die jüdische Hebamme nicht mehr geholt wurde oder dass sie gesehen hätten, wie die SA einen jüdischen Laden demolierte. War "Holocaust" ein erster Umschwung?
Bode: Ich selbst kann das nicht bestätigen. Mir erzählten damals Gleichaltrige, ihre Eltern hätten das abgewehrt. Aber interessant ist, dass gleich nach dem Krieg, 1945 und 1946, gar nicht über den Holocaust geschwiegen wurde, er war sogar das Thema. Man hatte von den Lagern in Polen gehört und wusste, die Juden waren weggebracht worden, nun erfuhr man vom wahren Ausmaß der Vernichtung. Das kollektive Schweigen trat erst danach auf. Warum? Ich habe eine eigene These: Es ging nicht um "Wir müssen schweigen, weil wir Täter waren", sondern: Fast jeder hat von der Enteignung, der Entrechtung, der Ausweisung der Juden profitiert. Sei es durch billige Möbel, durch Karrieresprünge, durch Übernahme eines Betriebs durch "Arisierung". Jetzt war der gute Name der Familie in Gefahr. Ich glaube, das Schweigen ist aus Angst vor diesem unglaublichen Makel entstanden, den konnte man seinen Kindern nicht erklären. Heute denke ich manchmal, zu schweigen war noch das Beste, was zu haben war, denn andernfalls wären viele Familien wahrscheinlich auseinandergebrochen.

Mit den Enkeln geht die Kriegsgeneration oft viel entspannter um als mit den Kindern. Umgekehrt fragen die Enkel auch unbefangener.
Bode: Und sie stellen auch die richtigen Fragen. "Was haben Sie damals gefühlt?" macht Zeitzeugen oft verlegen. Wenn aber ein Enkelkind fragt: "Oma, als du damals auf der Flucht warst, wo ist denn da dein Hund geblieben?" - dann ist man beim Thema. Dann muss man nicht mehr nach den Gefühlen fragen, weil Oma dann schon weint.

Hat das Schweigen in den Familien Auswirkungen auf unsere Gedenkkultur? Wenn man von Angehörigen gar nichts erfährt, was die Hitlerzeit für sie bedeutete, bleibt sie eine seltsam fremde Episode. Viele empfinden die Gedenktage deshalb als Pflichtübung.
Bode: Wir haben zum Glück sehr lange und ausführlich unsere Geschichte aufgearbeitet, aber wir haben es sehr akademisch getan. Erst seit ein paar Jahren haben wir eine emotionalere Aufarbeitung. Ich bin überzeugt, dass das viel bringt, auch für die Gedenkkultur. Als die "Holocaust"-Serie lief, stand in den deutschen Feuilletons: Diese Geschichte darf man nicht fiktionalisieren, Hollywood-Schnulze. Da waren sich unsere Intellektuellen einig. Im Fall von "Unsere Mütter, unsere Väter" hat es so eine Abwehr nicht mehr gegeben. Da ist etwas passiert. Es ist heute möglich, sich die Geschichte in ihrer Komplexität, mit ihren Verstrickungen und ihrer Widersprüchlichkeit anzusehen. Das Schwarz-Weiß-Denken hat sich erledigt.