In seinem umjubelten Premierenabend im Thalia Theater macht Kabarettist Rainald Grebe kurzen Prozess mit den Vorurteilen.

Hamburg. "Wo man singt, da lass dich ruhig nieder." Rainald Grebe gibt mit Johann Gottfried Seumes Versen von 1804 das Motto vor für seinen vom Premierenvolk bejubelten "Volksmusik"-Abend im Thalia Theater. Nicht zufällig kommt der mit Auftrittsapplaus empfangene Kabarettist, Musiker und Theatermacher mit dem Rasenmäher angefahren: In zwei unterhaltsamen Stunden macht er kurzen Prozess mit dem Wildwuchs der Mythen und Vorurteile über deutsches Liedgut und die Varianten der populären Musik von den Kinderliedern über Ballermann-Hits und Fußballstadion-Gesängen bis zu Schlagern von Mickie Krause ("Ich bin solo! Scheißegal").

Blau strahlt der Bühnenhimmel und grün leuchtet der Kunstrasen. Irgendwie ist alles falsch und wirkt doch schön echt in Jürgen Liers Raum. Er lässt es auch nicht am knorrigen Stamm des viel besungenen "Lindenbaums" fehlen. "Klipp klapp schallt's aus dem Wald", montiert Grebe dadaistisch wortspielerisch gängiges Volksliedgut zu einem pointierten Medley. Dann schlüpft er in die Rolle des Volksliedforschers und führt im Schreichor der Thalia-Schauspieler die Lautgebärde des Singens vor, illustriert dies mit einer Großaufnahme. Ernsthafter und wissenschaftlicher könnte der sarkastische Schelm doch nicht zu Werke gehen, dem Heinrich Heines romantische Ironie und Melancholie im Gemüt zu liegen scheint.

Auf einer Schaukel in luftiger Höhe schwebend, schwingt sich Grebe in die Geschichte des deutschen Volkslieds. Er nimmt sich die adeligen Ahnherren vor: Johann Gottfried Herder, Clemens von Brentano ("Des Knaben Wunderhorn"), Achim von Arnim oder Hoffmann von Fallersleben waren wie die Gebrüder Grimm Gelehrte, die sich nie wirklich mit dem Volk beschäftigten, sondern eine romantisch idealisierte Überlieferung der Hausmärchen und Volkslieder in ihren Sammlungen begründeten, was Heine auch kritisierte.

Dagegen mischten sich Grebe und sein Team unerschrocken unters Volk. "Wer sich mit der Volkssuche beschäftigt, darf das Volk nicht fürchten." Die Ergebnisse der Feldforschung unter den Alten und Jungen sind denn auch niederschmetternd komisch: "Hoch auf dem blauen Wagen", intoniert ein Seniorenpaar vor der Kamera. Ein Rentner flötet zittrig "Lustig ist das Zigeunerleben", ein anderer erinnert sich an Marschlieder aus der Militärzeit. Zwei Schülerinnen bekommen eben noch die erste Zeile "Alle Vöglein sind schon da" hin. Kommentiert Grebe: "Der Fink hat es nicht mehr ins 21. Jahrhundert geschafft."

Natürlich wird auch gemeinsam gesungen. "Der Mond ist aufgegangen hat es knapp vor Andrea Berg geschafft", erklärt Grebe und fordert den Zuschauer-Chor auf, ohne Liederscham loszulegen. Tapfer beginnt dieser, gerät jedoch von Strophe zu Strophe mehr aus dem Takt und rutscht ab in schrägen Singsang. Triumphiert der Chorleiter höhnisch: "Das deutsche Volkslied ist nicht tot!" Darauf stimmt er einen Song über "55 Schweintransporter an" und reimt: "Wo ist das Herz der Nation, frag die Spedition."

Heimat ist da, wo der Kaffee und alles andere gleich schmecke, begleitet und kommentiert der Hamburger Bürgerchor lethargisch Grebes traurig zynischen Abgesang auf das Fremdsein in der Heimat, die sich heimelig über Konsum und Waren definiere. In kurzen Statements äußern sich die Choristen, die meisten mit migrantischem Hintergrund, auch zum Thema. Sie treten in kurzen schwarzen Hosen auf, erinnern mal an die nationalistischen Riegen des Turnvaters Jahn, mal an Trachtenvereine in den schwingenden Glockenröcken der von Kostümbildnerin Kristina Böcher für Frau und Mann entworfenen schwarzen oder weißen Kleider. "Hoppe, hoppe Reiter", intonieren die Frauen freudlos Kinderreime oder mit ausdrucklosem Gesicht die stumpfsinnigen oder zotigen Ballermann-Sauflieder ("Immer wenn ich traurig bin, trink ich einen Korn"). Zu Grebes "Lob der Region" im Reggae-Rhythmus drücken sie heimischen Kohl und Karotten innig an Brust oder Wangen in der grimmigen Komik, die Grebes Spezialität ist.

So ganz nebenbei beschert Regisseur Grebe dem Publikum einen Nackten auf der Bühne, parodiert mit dem Aus-der-Rolle-Fallen und Anweisungen zum Spiel ("Weg mit der Deko!") gängige Inszenierungspraktiken. Er bietet mit den Video-Interviews einen Exkurs ins dokumentarische Theater und lässt interaktives Mitmachtheater nochmals bei den Stadiongesängen zum Anfeuern des HSV üben: "Noch ein Tor!", erklingt allerdings doch recht halbherzig und zaghaft. Schließlich sitzen die Zuschauer nicht in der Nordkurve, sondern adrett gekleidet in den Rängen eines bürgerlichen Bildungstempels.

Wieder vereint mit seiner bravourösen Kapelle der Versöhnung, dem Gitarristen Marcus Baumgart und dem Perkussionisten Martin Brauer, sowie Chorleiter Jens-Karsten Stoll am Synthesizer, erweist sich Grebe auch als Poet und besingt das "Loch im Himmel" als nicht ganz ernst gemeinte Klage über seinen verlorenen Kinderglauben an Gott. Er ist eine Illusion wie auch die vom deutschen Liedgut, lautet Grebes nüchternes Fazit. Volksmusik kann heute sehr Vieles sein und ist im globalen Zeitalter von nationalen Fesseln befreit. Wie tönt der Volksmund so schön? "Die Gedanken sind frei!" Nur drehen sie sich häufig noch immer nur um sich selber - wie tanzende Derwische im Schussbild des doppelbödigen Abends, in dem Rainald Grebe alle falsche Romantik mit subversivem Spaß und Witz wegmäht.

"Volksmusik" 20.4., 14.00 u. 20.00, Thalia Theater, Karten unter T. 32 81 44 44; www.thalia-theater.de

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