Auf “Magma“, dem neuen Album der Hamburger Rockband Selig, geht es mal wieder um große Gefühle. Freitag Gratis-Konzert in Hamburg.

Hamburg. Das dritte Album einer Band bietet Grund zur Sorge. Oft ist es der Punkt einer Neuerfindung, die Fans so gar nicht hören wollen. Oder eines kreativen Stillstands, den Kritiker so gar nicht hören wollen. Nicht selten ist nach dem dritten Album Schluss, so war es auch 1997 bei "Blender", dem dritten Langspieler der Hamburger Rockband Selig. Die CD war kaum im Presswerk, da gingen Jan Plewka, Gitarrist Christian Neander, Bassist Leo Schmidthals, Schlagzeuger Stoppel Eggert und Keyboarder Malte Neumann getrennte Wege. Die Jungs hatten schlicht die Schnauze voll voneinander.

Aber 2008 fand Selig wieder zusammen, und jetzt erscheint mit "Magma" nach den beiden Top-Ten-Alben "Und endlich unendlich" (2009) und "Von Ewigkeit zu Ewigkeit" (2010) das - Trommelwirbel - dritte Studioalbum seit der Selig-Reunion. Aber Grund zur Sorge besteht nicht.

Das wird schon klar beim nachmittäglichen Gespräch mit Jan Plewka und Leo Schmidthals im Hamburger Club Golem. Aufgeräumt tauschen wir zehn Minuten Musikerwitze aus, bevor Plewka auf den Beginn des zweiten Selig-Frühlings zurückschaut: "Nach 'Blender' waren wir fertig, das Album war ein einziger Abschiedsbrief an das Musikgeschäft. Wir waren Karikaturen unserer selbst ohne Umfeld, das uns beschützt." Und Schmidthals ergänzt: "Wir waren dabei, uns zu verbiegen und vom Menschen zum Produkt zu werden." Der Abstand zur Band nach der Trennung und die Gründung von Familien ließ die fünf reifen.

Und Reife ist die Basis zur Verarbeitung. Auf den Comeback-Alben "Und endlich unendlich" und "Von Ewigkeit zu Ewigkeit" beschnupperten sich die Selig-Musiker noch, die Texte waren introspektiv. Nun ist es auf "Magma" Zeit, auch mehr nach außen in die Welt zu schauen. Im Lied "Sie scheint" geht es um "Er" und "Sie", um gemeinsame Zeit Seite an Seite. Die Liebe ist auf "Magma" eine ebenso treue Begleiterin wie "Schwester Schwermut", die im gleichnamigen Song direkt hinter "Sie scheint" das Gleichgewicht zwischen Licht und Schatten wiederherstellt.

Ein zentraler Song ist aber vor allem "Love & Peace". Schon in den 90ern war Selig die Gruppe der Post-Hippies als Kontrapunkt zu den verkopften Diskursrockern der Hamburger Schule. "Love! Peace! Wenn du die Welt nicht verändern kannst, dann änder dich selbst. Peace! Love! Wenn du dich selbst nicht verändern kannst, dann änder die Welt", ist das Mantra von Plewka inmitten einer Aufzählung zeitgeschichtlicher Schlagzeilen von den Schüssen auf den Papst über Tschernobyl, Aids und Kosovo-Krieg bis Gorleben. Ein Lied in der lyrischen Schnittmenge von Billy Joels "We Didn't Start The Fire" und Michael Jacksons "Man In The Mirror". "Ja, es ist ein Mantra, eine Beschwörung", sagt Plewka.

Und die stieß schon auf viel Gegenliebe. Im November stellte Selig "Magma" auf einer Tour in kleinen Clubs live vor, auch an zwei Abenden im ausverkauften Molotow. Der unvergleichliche Kellerschuppen am Spielbudenplatz fehlte noch in Seligs langer Sammlung von abgegrasten Hamburger Adressen. Das Gebälk von Marquee, Prinzenbar, Lehmitz, Große Freiheit 36 oder Docks ächzte bereits unter Seligs Schalldruck, und so mancher Club wie das Baton Rouge, wo Selig den ersten Plattenvertrag unterschrieb, überdauerte die Zeit nicht. So waren die beiden Molotow-Konzerte auch Zeichen der Solidarität mit dem abrissbedrohten Aushängeschild der Hamburger Livemusikszene.

Und die Fans im Molotow bildeten am Ende von "Love & Peace" einen großen, nicht enden wollenden Chor, was nicht nur Leo Schmidthals nachhaltig beeindruckte: "Wir sind gerade dabei, die Aufnahmen der Chöre von allen Konzerten für das Album zu vereinen." Aber nicht nur "Love & Peace" bestand die Live-Feuerprobe, auch das donnernde "Ich lüge nie" oder die potenziellen Arena-Rocker "433" und "Alles auf einmal". Sie fügen sich auf "Magma" nahtlos ein in den immer leicht retro klingenden, direkten und rohen, aber warmen Selig-Sound. Allerdings war dafür dieses Mal nicht nur die Band verantwortlich, sondern auch der "Rick Rubin Europas", Steve Power, der bei Blur und den ersten fünf Millionensellern von Robbie Williams an den Reglern stand und "Magma" mit klassischen und modernen britischen Klangaspekten anreicherte.

"Wir brauchten einen Guru, der uns auf die nächste Stufe hebt", erinnert sich Plewka, "und unser Tontechniker Michael Tibes hatte vor 15 Jahren mit Power gearbeitet. Tatsächlich ist er unserer Einladung gefolgt und schon im Moment, als er das Studio betrat, war alles klar. Null Ego, pure Leidenschaft." So herrschte bei den Proben und den Aufnahmen in Wilhelmsburg und in einem 120-Einwohner-Örtchen in den englischen East Midlands laut Plewka die Stimmung eines "buddhistischen Gentlemen-Hippie-Camps."

Dort in den Midlands ging es nur um die Musik. Ohne Ablenkung (nicht mal einen Pub gab es in der Nähe), ohne Druck wurde zusammen in gelöster Atmosphäre an der Neuerfindung gearbeitet. Denn die Band kennt die Gefahren von Stress und Burn-out zur Genüge, wie Plewka in "Alles auf einmal" singt: "Bitte nicht alles auf einmal. Ich verliere meine Mitte, und das hatten wir schon mal" - ein Leben im Überflug mit Leichtsinn und Selbstbetrug. Eine Herausforderung für jede junge Band, die mit eigenen und fremden Ansprüchen überfordert wird. Selig ging daran kaputt und brannte aus, kehrte die Asche zusammen und entzündete ein neues, kontrollierteres Feuer.

Natürlich bleibt das Rockgeschäft ein heißer Tanz auf dem Vulkan, aber die Band tut es Hand in Hand, damit keiner mehr über den Rand kippt. "Dieses Album ist unsere Seele, und so kam auch der Albumtitel zustande, der schon vor dem ersten Take feststand. Zwischen uns brodelt etwas, das uns zusammenhält", sagt Leo Schmidthals. Etwas Gewaltiges und doch Dynamisches. Und so ist nach dem dritten Album seit der Band-Reunion kein Ende in Sicht. Die Jungs haben vielleicht nicht die Welt verändert, aber sich selbst. Zum Guten, wie "Magma" beweist.

Selig: "Magma" CD (Vertigo/Universal) ab 1.2. im Handel; Konzerte: 26./27.3., Docks; www.selig.eu

Am Freitag (1. Februar) um 18 Uhr spielt Selig bei „Saturn“ in der Mönckebergstraße.