Kunsthalle und Bucerius Kunst Forum widmen Jahrhundertkünstler Ausstellungen. Giacometti ist immer wieder für Neuentdeckungen gut.

Hamburg. Fast ein Dutzend Ausstellungen hat es europaweit in den letzten zehn Jahren zu Alberto Giacometti (1901-1966) gegeben. Trotzdem scheint der Jahrhundertkünstler immer wieder für Neuentdeckungen gut zu sein. Wie facettenreich sein Werk und dessen Entwicklung sind, kann man ab heute in der Kunsthalle und parallel dazu im Bucerius Kunst Forum entdecken. Dabei handelt es sich nicht um eine gemeinsame Ausstellung, sondern um zwei durchaus unterschiedliche Annäherungen an das Werk. Gleichwohl ergänzen sich "Giacometti. Die Spielfelder" in der Kunsthalle und "Alberto Giacometti. Begegnungen" im Bucerius Kunst Forum. Denn in beiden Fällen geht es um das Menschenbild des Künstlers, der einer größeren Öffentlichkeit vor allem wegen seiner merkwürdig gestreckten Figuren bekannt ist.

In der Kunsthalle zeichnet die Kuratorin Annabelle Görgen-Lammers eine Entwicklung nach, die Ende der 1920er-Jahre mit dem surrealistischen Frühwerk einsetzt und immer um die Beziehung von Objekt und Raum kreist.

Giacometti wurde in der Schweiz als Kind einer Künstlerfamilie geboren. Seine besondere Begabung erkannte man schnell, sodass er schon früh gefördert wurde und sich künstlerisch entwickeln konnte. Er ging nach Paris, schloss sich 1928 den Surrealisten an und entdeckte das Spiel mit Figuren im Raum als eine Möglichkeit, die Beziehung zwischen Menschen und Objekten experimentell zu erkunden. Nähe und Distanz, Aufsicht und Ansicht waren Themen, mit denen er sich immer wieder beschäftigte, wobei er mit Dimensionen und Größenverhältnissen spielte. Auch das nur 18 Quadratmeter große Pariser Atelier, das er 1926 bezog, wurde für ihn zum Spielfeld. Stuhl, Bett und Lampe waren Objekte, die er immer wieder neu und anders zueinander in Beziehung setzte. In der Kunsthalle ist das Atelier in seiner Dimension jetzt nachgestellt worden, mit zwei extrem vergrößerten, an die Wand projizierten Zeichnungen, in denen der Künstler 1932 seinen Arbeits- und Wohnraum als Spielfeld dargestellt hat.

Eine nur skizzenhafte, um 1931/32 entstandene Zeichnung macht deutlich, wovon Giacometti jahrzehntelang träumte. Das Blatt heißt "Entwürfe für große Werke im Freien"; es zeigt in mehreren Skizzen Figuren in einem Raumzusammenhang und in unterschiedlichen Größenverhältnissen.

"Der Tag wird kommen, an dem man große Dinge im Freien machen kann, jeder bekommt seine Chance, wenn er ihrer würdig ist", hatte Giacomettis Vater schon 1929 seinem Sohn vorhergesagt. Tatsächlich wirken all die Spielfelder, die Giacometti immer wieder neu für sich inszenierte und in denen er die Skulptur raumgreifend von der Vertikalen in die Horizontale wendete, wie eine fortwährende Entwicklung hin zu einem Projekt, im dem die Skulptur als Platz erscheint.

Ende der 1950er-Jahre schien sich Giacomettis Traum endlich zu erfüllen: Der amerikanische Architekt Gordon Bunshaft schlug dem Bildhauer vor, für die weite Fläche vor dem 60-stöckigen Neubau der New Yorker Chase Manhattan Bank eine Skulpturengruppe zu schaffen. Giacometti experimentierte mit drei Figuren, die er immer wieder anders anordnete und in Beziehung setzte. Doch überzeugen konnte er schließlich weder seine Auftraggeber noch sich selbst. Trotzdem markiert das Chase-Projekt jenen Höhepunkt in Giacomettis Schaffen, auf den er jahrzehntelang hingearbeitet hatte. Und es ist beinahe eine Sensation, dass die Kunsthalle jetzt die monumentalen, teilweise bis zu drei Meter hohen Figuren, nämlich den "Schreitenden Mann II" von 1959/60, die "Große Stehende II" von 1960 und den ebenfalls 1960 entstandenen "Großen Kopf" zeigen kann.

Das Bucerius Kunst Forum widmet sich dagegen Giacomettis Auseinandersetzung mit dem menschlichten Antlitz, das für ihn ein fast lebenslanges Thema war. Schon früh hatte er die Bildnisse von Vater und Mutter sowie der Geschwister modelliert und gezeichnet und dabei ganz verschiedene Ausdrucksformen erprobt. Bei seinem 1919 entstandenen Bildniskopf des Bruders Bruno bemühte er sich noch um realistische Wiedergabe, doch bald zeigte sich, dass es ihm nicht darum, sondern vielmehr um die Essenz einer Persönlichkeit und die Darstellung ihrer Lebendigkeit ging. Vor den weißen Wänden des Oktogons entfalten sowohl die Plastiken als auch die Gemälde und Zeichnungen eine enorme Präsenz. Faszinierend ist das Nebeneinander dreier Bildnisköpfe, die Giacometti alle 1927 von seinem Vater schuf. Von der Bronze über Granit bis hin zum Marmor veränderte der Künstler den Ausdruck, der immer abstrakter wird.

Nebenbei räumt die Ausstellung, die von Michael Peppiatt und Eva Hausdorf gemeinsam kuratiert wird, auch mit einer Legende auf: Alberto Giacometti war keineswegs ein introvertierter Einzelgänger. Er war mit zahlreichen Künstlern befreundet und gehörte zu jenen Intellektuellen, die nächtelang über Literatur und existenzialistische Philosophie diskutierten. Dabei betrachtete er seine Gesprächspartner genau, vor allem ihre Augenpartien. Denn die Lebendigkeit eines Menschen offenbarte sich ihm im Blick, was er meisterhaft darzustellen vermochte.

"Giacometti. Die Spielfelder" Galerie der Gegenwart, bis 19.5., Di-So, 10 bis 18 Uhr, Do bis 21 Uhr. "Alberto Giacometti. Begegnungen" Bucerius Kunst Forum, bis 20.5., täglich 11-19 Uhr, Do bis 21 Uhr